Wissenschaftliche Wahrheitssuche bei Panajotis Kondylis

In der Deutschen Zeitschrift für Philosophie (3, 2012, S. 365-385) versucht Oliver Flügel-Martinsen mit Apodiktischer Dezisionismus? Kondylis’ Machtdenken eine Einschätzung der wissenschaftlichen Position von Panajotis Kondylis vorzunehmen. Dabei unterlaufen Argumentationsfehler, die symptomatisch sind für ideologische Positionen – hier betreffen sie Ideologien der Postmoderne. Ideologische Positionierung steht wissenschaftlicher Wahrheitssuche im Wege. Ihr hat sich der ›deskriptive Dezisionismus‹ von Kondylis verschrieben, es ist die Absage an ideologische Verengung. Die zentralen Schwächen der Argumentation von Flügel-Martinsen werden hier so ausführlich dargestellt, dass die Kenntnis von dessen Darlegungen nicht nötig ist. Die Widerlegung von Flügel-Martinsen soll vor allem eine Verstehenshilfe für den Denk- und Argumentationsansatz von Kondylis geben.

Ein bedeutsames Missverstehen zeigt sich bereits in dem Satz: »Wenn Kondylis behauptet, dass normative Positionen deshalb falsch sind, weil sie die Wirklichkeit des Machtstrebens übersehen...« (Apodiktischer Dezisionismus (=AD), S.373). Dabei bezieht sich Flügel-Martinsen auf Panajotis Kondylis, Macht und Entscheidung (=MuE), S.74. Doch dort steht etwas anderes. Kondylis stellt sich nämlich intensiv der Frage nach der sozialen Funktionalität der Werte. Werte und Normen sind für ihn nicht falsch, weil sie die Wirklichkeit des Machtstrebens übersehen, vielmehr sind sie für seine Argumentation sozial geradezu unentbehrlich, da ihre funktionelle Stärke darin liegt, dass durch sie jedes eigennützige Machtstreben und jeder Machtanspruch abgewiesen und sie als das Gegenteil ihrer Natur hingestellt werden – etwa weil sie dem Subjekt unbewusst bleiben. Der Preis, den der Machtanspruch dafür entrichten muss, ist seine Verleugnung. Er muss seine Durchsetzung gerade auf dem Umweg verfolgen, der seiner Eindämmung dienen soll, nämlich als ethische oder rechtliche Norm oder als Dienst am Gemeinwohl. Auf der von Flügel-Martinsen zitierten Seite (MuE, S.74) heißt es zur Bedeutung von Normen: »Wären Macht und Moral ursprünglich und wesensgemäß heterogen, so hätten sich Normen und Werte nie in den Dienst von Herrschaft, geschweige denn von Aggression und Vernichtung stellen lassen.« Auch findet sich im gleichen DZfPh-Heft der Darlegung von F.-M. im Artikel Alte und neue Gottheit von Kondylis die Bemerkung: »Die formale Begriffsstruktur, die eine Weltanschauung oder Ideologie kennzeichnet, ist in der Regel ihren Trägern nicht bewusst, und sie kann ohne Weiteres zwei Weltanschauungen gemeinsam sein, die sich auf Leben und Tod bekämpfen. (...) Diese Autonomie [der formalen Struktur] spiegelt in der Wirklichkeit die Vorherrschaft ihres unbewussten Teils über den bewussten wider. (...) [Die formale strukturelle Übereinstimmung] muss sogar den Ideologieanhängern weitgehend unbewusst bleiben, wenn sie ihren entscheidenden psychologischen Rückhalt, nämlich das apostolische, missionarische Gefühl ihrer Einzigartigkeit, nicht verlieren wollen.« (S.351)

Die einzig legitime Schlussfolgerung daraus ist, dass normative Positionen gerade deshalb wirkungsvoll sind, weil sie die Wirklichkeit des Machtstrebens verdecken, aber sie sind keineswegs deshalb falsch, weil diese Wirklichkeit übersehen wird. Ihre soziale Wirksamkeit bzw. Funktionalität lässt sich auf die unbewusste (formale) Komponente der Weltbilder zurückführen, auf die Tatsache also, dass im Zustand der Kultur der Machtanspruch nur als seine Negation und Selbstverleugnung auftreten darf, um seine Ziele durch diejenigen sozialen Instanzen erreichen zu können, die zu seiner Eindämmung aufgetürmt wurden. Er darf bei Strafe des eigenen Untergangs nicht ungehemmt als ›nackte‹ Entscheidung auftreten. Innerhalb der Kultur präsentiert er sich notgedrungen als selbstloser Dienst am Gemeinwohl. Der soziale Disziplinierungsdruck würde ihn früher oder später zerschmettern, falls er sich als das zeigte, was er ist und bezweckt, nämlich die Verfolgung eigener Interessen.

Mit diesen Feststellungen ist ein argumentativer Kreis eröffnet, dessen Hauptpunkte die Erklärung einiger theoretischer Grundpositionen des ›deskriptiven Dezisionismus‹ von Kondylis und zugleich eine Aufklärung über die Missverständnisse von Flügel-Martinsen darstellen. So etwa enthält sein grundsätzlich gemeintes Urteil einen wegen seiner Trivialität allseits bekannten Argumentationsfehler: »obwohl er mit seiner befragenden Rekonstruktion der Konstitution von Weltbildern bestimmte ideologiekritische Fäden weiterzuspinnen scheint, die ebenfalls zu einer gehörigen Skepsis auch gegenüber der Sicherheit der eigenen Denkmittel führen sollten, widersteht Kondylis offenbar der Versuchung nicht, sich in die Position desjenigen zu begeben, der den Schleier zu lüften vermag, ohne sich in die gleichen Fallstricke zu begeben, von denen er selbst gemeint hat zeigen zu können, dass sie für alle übrigen Theorien in ihrer Eigenschaft als Weltbilder unausweichlich sind;« (AD, S.373) Die Erörterung dieses Satzes soll unter den Aspekten A und B erfolgen.

(A) Diese Aussage beschreibt den mehrfach gegen Kondylis vorgebrachten Vorwurf des Verzichts auf Wertung. Die Aufstellung der (existentiellen) Wertefreiheit werde aus taktischen Opportunitätsgründen eingeführt. Dadurch verschaffe sich der Theoretiker das Vorrecht der wahren Theorie. Dieser privilegierte Status erleichtere ihm die Objektivierung der eigenen Entscheidung und daher die Verleugnung des eigenen Machtanspruchs. Doch damit ist im logisch-strukturellen Aufbau nur das triviale Argument gegen den Skeptizismus wiederholt: Woraus wolle denn der Skeptiker, da man doch nach seiner Meinung nichts Gewisses wissen kann, die Gewissheit seiner Position ableiten? »Wo ist der Ort, von dem aus eine Metaperspektive eingenommen werden kann, die es, nimmt man die perspektivistischen Hintergrundannahmen ernst, ja eigentlich nicht geben dürfte?« (AD, S.372) Angenommen, das Argument träfe zu. Was wäre damit bewiesen? Die logisch richtige Schlussfolgerung daraus wäre, dass alle, Kondylis eingeschlossen, ihre Entscheidungen objektivieren und Macht anstreben. Dieser einzig legitime Schluss bedeutet aber die Bestätigung der Kondylischen Theorie. Man kann nicht eine Theorie widerlegen, indem man ihren Geltungsbereich erweitert, d.h. einen Syllogismus bemüht, bei dem Obersatz (»nimmt man die perspektivistischen Hintergrundannahmen ernst«) und Konklusion im Widerspruch zueinander stehen. Kondylis erklärt in einem Interview ausführlich, »im Obersatz wird also die Wahrheit einer Position, im Schluss ihre Falschheit angenommen: ›Ihre Theorie, Weltbilder seien relativ, ist wahr, daher ist Ihre Theorie als Weltbild relativ bzw. falsch.‹ Nein, so lassen sich skeptische Positionen nicht widerlegen. Dass meine Theorie, wie jede andere auch, geschichtlich bedingt ist, beweist nicht ihre Relativität, sondern bildet bloß eine Bestätigung des Prinzips der geschichtlichen Bedingtheit am eigenen Beispiel. (...) Nicht die geschichtliche, sondern die normative Bindung steht der Wahrheit von Theorien über die menschlichen Dinge im Wege.« (Kondylis, Machtfragen, S.164)

(B) In der Bemerkung von F.-M. erfolgt die unzulässige Gleichsetzung der Ebene der Theorie (der Darstellung der Wirklichkeit) mit der Ebene der Wirklichkeit selbst, es besteht also die Verwechselung der Darstellungsebene als theoretischer Metaebene und der thematischen, d.h. der Ebene der real existierenden Untersuchungsobjekte. Die elementare wissenschaftliche Lehre unterscheidet zwischen Form- sowie Funktionsanalyse der Werte innerhalb ihres anthropologisch-kulturellen Nexus und der Anwendung bestimmter Normen als Richtlinien der Behandlung des Untersuchungsgegenstandes. Die Beachtung des fundamentalen Unterschieds der beiden Ebenen ist die einzig zulässige Weise, die Einflussnahme der wertenden Deskription auf die wertfreie zu verhindern. Das deskriptive Verfahren setzt die Werte nicht in Beziehung zur Realebene, es bedient sich ihrer nicht als analytischer Kompass bzw. theoretisches Bezugssystem, vielmehr lässt es sie als gleichberechtigte Untersuchungsgegenstände neben anderen zahlreichen sozialen Wirkungsfaktoren bestehen. Durch ihr restloses Aufgehen in der Realebene erhalten die Werte ihren allein angemessenen Platz neben den übrigen Gegebenheiten. Somit wird ihnen jeder privilegierte epistemologische Status genommen, den sie innerhalb der ethisch-normativen Theorien besitzen. Indem man sie auf der Objektebene festzurrt, kann sich keine Loslösung von ihr und kein Übergang mehr zur theoretischen Metaebene vollziehen, wodurch sie sich von Objekten der Betrachtung in Richtlinien des analytischen Vorgehens verwandeln würden. Die Erkenntnis des Sozialen ist also im Prinzip möglich, wenn man die Werte als konstitutive Elemente der menschlichen Situation auffasst.

Die Ebene der Darstellung bzw. die theoretische Metaebene

Es ist die Ebene, auf der sich die Frage der Objektivität (was gibt es wirklich?) stellt. Auf dieser Ebene wird die Frage durch den sozialontologischen Grundsatz beantwortet. »Es gibt keine Ideen. Es gibt nur menschliche Existenzen in konkreten Lagen, die auf jeweils spezifische Weise agieren und reagieren; eine dieser spezifischen Aktionen und Reaktionen besteht nach der üblichen Terminologie darin, sich Ideen zu erdenken oder anzueignen. Nicht Ideen kommen in Berührung miteinander, sondern nur menschliche Existenzen, die innerhalb von organisierten Gesellschaften im Namen von Ideen handeln müssen; (...) und schließlich werden Ideen weder besiegt noch siegen sie, sondern ihr Sieg oder ihre Niederlage steht symbolisch für die Durchsetzung oder Unterwerfung von bestimmten menschlichen Existenzen.« (MuE S.85f)

Diesem Grundsatz gemäß ist die ontologische Priorität der konkreten Menschen vorgegeben. Geht man von ihm aus, dann müssen die Ideen dieser Menschen als Funktionen oder Derivate des primären ontologischen Elements (des Menschen) aufgefasst werden, wie dieses auf der Ebene der Darstellung definiert wird. Somit besitzt die Frage der Objektivität zwei analytisch unterscheidbare Dimensionen: Die Objektivität oder der Objektivitätsanspruch der Ideen, wie sie im Lichte des ontologischen Prinzips untersucht wird und die Objektivität oder der Objektivitätsanspruch der Ideen, wie sie in der Perspektive der thematischen Ebene, d.h. in der Perspektive der konkreten Menschen erscheint. Aus den ontologischen Prinzipien der Theorie folgt notwendig, dass die Ideen der konkreten Subjekte keine Objektivität im absoluten Sinne beanspruchen können, insofern jene eben existentielle Funktionen für die Menschen haben, was diese nicht davon abhält, ihre Ideen für objektiv gegeben und für richtig zu halten. Dafür, dass die Menschen ihre zwangsläufig existentiellen subjektiven Entscheidungen mit dem Siegel der Objektivität versehen müssen, bietet der deskriptive Dezisionismus eine Erklärung, nämlich den Mechanismus der Objektivierung bzw. Rationalisierung (Legitimität durch Rationalität, psychologische Rationalisierung etc.), der in seiner gesamtgesellschaftlichen Dimension als die fundamentale Ambivalenz des Sozialen umschrieben wird. Dieser ist die Grundbedingung der Identitätsbildung und der Konstitution der Weltbilder.

Die Wertenthaltung des Theoretikers

Diese wird ausschließlich auf der Ebene der Darstellung postuliert und sachgerecht eingesetzt. Die Absicht des Theorieproduzenten ist es, die Grundlegung der Metaebene, seines Hoheitsgebiets sozusagen, in einer Weise vorzunehmen, die in der Lage ist, Verzerrung und Trübung seines Modus der Erfassung der thematischen Ebene im Keime zu ersticken. Der existentielle Verzicht ist die conditio sine qua non zur Absicherung des absoluten Vorrangs der Ebene der Wirklichkeit, d.h. des realen sozialen Geschehens. Wäre die Konstituierung der Metaebene ohne Zugrundelegung des Postulats der Wertfreiheit, also ohne Außerkraftsetzung der persönlichen Wünsche und Präferenzen des Theorieproduzenten (deswegen existentielle Wertfreiheit) im Hinblick und mit Rücksicht auf die absolute ontische Priorität der realen Ebene erfolgt, dann wäre die Theorie außerstande, das gleichzeitige Vorhandensein mehrerer unter sich konkurrierender Theorien unter Achtung des Prinzips ihrer Gleichwertigkeit (der grundsätzlichen Anerkennung der funktionellen Gleichberechtigung aller normativen Positionen) zu erklären. Für den deskriptiven Dezisionismus verfügen sowohl der Gottesfürchtige als auch der Rationalist, der ›Irrationalist‹ sowie der Nihilist über ebenbürtige Logiken und Identitäten. Die Rolle des ›Rationalismus‹ bei der Identitätskonstituierung übernimmt bei den einen der religiöse Glaube, bei den anderen der ›Irrationalismus‹, der ›Intuitionismus‹, die Anbetung des Gefühls etc.

Für die deskriptive Theorie verkörpern diese Spielarten der Identitätsbildung einige der unzähligen Formen der Objektivierung einer Entscheidung. Bei normativistischen Theorien dagegen, die die Konstituierung der Metaebene ohne Beachtung bzw. unter bewusster Ablehnung des Wertefreiheitspostulats vornehmen, wird die Analyse der Realebene an Hand von Kriterien unternommen, die durch die werthaft-normative Hierarchisierung von konstitutiven Elementen dieser Realebene entstanden sind. Das wäre einer Vorgehensweise vergleichbar, die das Selbstverständnis der Akteure in ihrem Nominalwert nähme; »vor allem wird die symbolische und polemische Relevanz der (Selbst-)Schilderung kaum wahrgenommen und so geredet, als ob letztere ideelle Kopien von realem Handeln wären und nicht Aussagen von Menschen, die in ihrer konkreten Lage ihr Handeln so schildern bzw. rationalisieren wollten oder mussten.« (Sozialontologie (= SO) S.22, Anm. 46)

Der begrifflichen Verschmelzung von Meta- und Realebene, d.h. ihrer mangelnden Differenzierung, steht bei Flügel-Martinsen eine zweite zur Seite: Die Konfusion nämlich von epistemologischer und werthaft-normativer Bedeutung des Normativen (»Was anderes aber ist das wissenschaftliche Ideal der Wertfreiheit als eine selbst wertende Überzeugung?« [AD S. 374]). Selbstverständlich setzt jede Erkenntnis Wertungen voraus, diese haben aber eine ganz andere Struktur und Beschaffenheit als ethisch-normative. Sie sind Anleitungen, Normen, Richtlinien wissenschaftlichen methodischen Vorgehens. Ich bewerte wissenschaftlich, das heißt, eingedenk des endlichen Charakters des menschlichen Denkvermögens setze ich mir bestimmte Untersuchungsziele und -prioritäten, bevorzuge die Untersuchung dieses Gegenstandes gegenüber anderen, habe ein besonderes Interesse zur Beleuchtung dieses Aspektes relativ zu anderen des gleichen Gegenstandes. Ich anerkenne die Gleichberechtigung verschiedener Untersuchungsperspektiven und profitiere vom Erkenntnisfortschritt und den Forschungsresultaten anderer Wissenschaftler. Der Einsatz von Abstraktionen, Generalisierungen, Reduktionen, Analogien, Selektionen, Schematisierungen, Hierarchisierungen, Typisierungen, Vergleichen etc. bildet eine reine Zweckmäßigkeitsfrage. Das wissenschaftliche Leistungskriterium ist die hermeneutische oder erklärende Fruchtbarkeit der Betrachtung: Wie viele und welche Phänomene werden erklärt und verstanden?

All das hat M. Weber mit dem Terminus ›Wertbeziehung‹ belegt. Es gibt keine ontisch unabhängigen Gegenstände. Sie werden zu Gegenständen der Betrachtung erst in der Perspektive des jeweiligen Forschungsinteresses ( »durch eine perspektivistische Entscheidung«, wie Flügel-Martinsen sagt). Dieses schneidet aus dem ontischen Kontinuum diskrete Segmente aus und betrachtet sie als seine Untersuchungsbereiche. Das Ontische (πρωτον τη φυσει) wird mittels der theoretischen Konstruktion zum Ontologischen (πρωτον προς ημας). Die wesentliche Frage ist: Wie wird der absolute Vorrang der ontischen Ebene (der Realität) gesichert? Durch die mit größtmöglicher Klarheit vorgenommene Angabe der Beschaffenheit der ontologischen Ebene.

Die ethisch-normativistische Theorie dagegen duldet keine alternativen oder komplementären Perspektiven neben sich. Daher ist sie außerstande, den Perspektivenwechsel in Bezug auf den gleichen Gegenstand vorzunehmen. Zwar kann ich im gegebenen Fall abwägen, ob diese oder jene Tat die für mich moralisch angemessene ist, ich bin aber unfähig, die Standpunkte zu wechseln und, anstatt Hilfe anzubieten, zu morden, wenn ich meinen moralischen Standpunkt nicht aufgeben will. Es hindert mich aber nichts daran, bei einer wissenschaftlichen Untersuchung jenseits jeder moralischen Wertung die Folgen der Hilfeleistung oder die Folgen der Mordtat zu erwägen. Ich muss dabei keineswegs meine persönliche Moral aufgeben, genauso wie bei der Untersuchung eines physikalischen Phänomens mich nichts hindert, zu seiner Erklärung verschiedene Standpunkte einzunehmen, das Phänomen etwa auf der Basis des Kausalitätsprinzips oder auf der des Indeterminismus zu erklären.

Flügel-Martinsen unterzieht die Ansichten von Skinner, Foucault und Kondylis einer vergleichenden Prüfung und kommt zum Ergebnis, die Theorievorschläge der ersten beiden wiesen gegenüber dem von Kondylis entscheidende Vorzüge auf, die im Verzicht auf machtanthropologische Ansätze begründet seien; er spricht von der Distanz, »die die genealogisch-diskurstheoretische Annährung an Konfliktsituationen vom machtanthropologischen Ansatz Kondylis’ trennt. (..) Zwar mag Skinner weiterhin die Rolle von Akteuren in Diskursen bedenken, aber auch er liefert keineswegs eine allgemeine Theorie menschlichen Seins, um von ihr auf die Konfliktsituation zu schließen, wie es bei Kondylis der Fall ist.« (S. 378) Doch gleich darauf schwenkt Flügel-Martinsen mit dem Verzicht auf die Verteidigung der eigenen Position und auf einen ernsthaften Widerlegungsversuch seines Feindes das weiße Fahnerl der Kapitulation: »Sowohl Skinner als auch Foucault können deshalb gleichsam unter der begründungstheoretischen Hürde [also doch eine Hürde!], die Kondylis nehmen müsste, hinwegtauchen.« Dieser habe also, wird nebenbei behauptet, seine Position nicht begründet; tatsächlich aber haben die Ergebnisse seiner geistesgeschichtlichen und historischen Untersuchungen bislang unwiderlegte Beweise für die Fruchtbarkeit seiner anthropologischen Grundannahmen geliefert. Zugleich werden Skinner und Foucault dafür gelobt, dass sie unter einer begründungstheoretischen Hürde hinwegtauchen, also auf eine Positionsbegründung verzichten. Flügel-Martinsen beteuert ohne Begründung die Überlegenheit des Verbleibs auf der Diskursebene, die Überlegenheit einer pragmatischen gegenüber einer ›fundamentalistischen‹ Haltung. Mit dem Plädoyer für ein Verschieben des »Untersuchungsfocus von den Eigenschaften von Subjekten auf die Bedingungen der Subjektivität« ( S.378f) spricht er sich entsprechend der postmodernen Soziallehre für die Auflösung des Subjekts in die Summe seiner interaktiven Funktionen aus. Er folgt der postmodernen Sozialtheorie, die – so die Analyse bei Kondylis (SO S.6) – als Denkfigur die ideelle Ergänzung zum Funktionsmodus der massendemokratischen Gesellschaftsform bildet. Mit der Ablehnung der als ›fundamentalistisch‹ bezeichneten Haltung wertet Flügel-Martinsen eine abendländisch vertraute Denktradition ab, die ihre Erklärungsversuche mit anthropologischen Ansätzen unternahm, mit Thukydides einen frühen Höhepunkt erreichte und darüber hinaus allgemein allen Menschen auf der Welt im Lebensalltag selbstverständlich ist: Ihren Ausgangspunkt bildet eine konkrete Vorstellung vom menschlichen Wesen als Grundlage der Versuche, diese Wesen, ihre Handlungen und den Sinn, den sie mit diesen Handlungen verbanden, zu verstehen.

Wenn F.-M. Kondylis »Apodiktik« (AD S.374) unterstellt, verkennt er, dass »Macht und Entscheidung« die knappe Theorie enthält, gleichsam das Ergebnis der bis dahin vorgelegten Beweismaterialien für die Theorie, nämlich die Arbeiten »Die Entstehung der Dialektik« und »Die Aufklärung«. Diese bislang nicht widerlegten Analysen sind ergänzt worden durch weitere geistesgeschichtliche Untersuchungen. Wer die Theorie von Kondylis widerlegen will, muss zeigen, dass sein Beweise unzutreffend sind.

Geistesgeschichtliche Differenzierungsprozesse verlaufen analog zu sozialen nicht geradlinig und gleichförmig, wie sich am Beispiel von zwei konkurrierenden und umfassende Machtansprüche erhebenden Weltbildern der europäischen Geistesgeschichte zeigen lässt. (vgl. SO S.36ff) Auf der einen Seite steht die theologische Metaphysik, die Gegenposition bildet der neuzeitliche Rationalismus. Dieser stellte der aristotelisch-scholastischen (göttlichen) Vernunft eine ebenso umfassende Vernunft gegenüber, »die den polemisch gemeinten und verwendeten Inbegriff der antitheologischen Einstellung bildete.« (SO S.49) Der traditionellen Metaphysik stellte der neuzeitliche Rationalismus Hypostasen wie ›Natur‹, ›Mensch‹, ›Geschichte‹ gegenüber. »Diese waren zwar vom Inhalt her der theologischen Weltanschauung entgegengesetzt, strukturell stimmten sie aber mit ihr in der entscheidenden Hinsicht überein, dass sie ebenfalls auf der direkten oder indirekten Verflechtung von Sein und Sollen beruhten, also den Sieg von vorschwebenden ethischen Vorstellungen durch den Verweis auf die Beschaffenheit eines ontologischen oder anthropologischen Urgrundes absichern wollten.« (SO S.49)

Weil sich der neuzeitliche Rationalismus polemisch gegen die theologische Metaphysik wenden musste, enthielt er als Gegenmodell eine logische Schwäche, denn der Mensch musste als Teil der gesetzmäßigen Natur und zugleich als Herr über diese Natur aufgefasst werden. Damit war ein logisch nicht auflösbarer Konflikt »zwischen Kausalem und Normativem oder zwischen Sein und Sollen« gegeben, der dann, wenn er logisch zu Ende gedacht wurde, zum ethischen Nihilismus führen musste. Diese Gedankenlinie aber ist, wie bereits erklärt, gesellschaftlich unbrauchbar und nicht akzeptabel. Deshalb wurden die genannten Hypostasen und mythischen Konstrukte in der vorherrschenden und gesellschaftlich geeigneten Hauptströmung des neuzeitlichen Rationalismus eben nicht nur gegen die theologische Metaphysik eingesetzt, »sondern auch gegen die radikale Ausmerzung des Sollens aus dem Sein, die bei der völligen Auflösung des Sollens und parallel dazu bei der schroffen Trennung von instrumenteller und ethischer Rationalität voneinander endete.« (SO S.49) Dies ist in knapper Zusammenfassung das Thema des Aufklärungsbuches. Die dort untersuchten geistesgeschichtlichen Entwicklungsprozesse werden im Zusammenhang mit gesellschaftlichen gesehen.

Machtanspruch und formale Struktur

Alle theologisch-metaphysischen und profanen objektivierten Entscheidungen haben die gleichen Denkstrukturen, denn alle haben – wie erwähnt – das gleiche anthropologisch bedingte Problem, »nämlich Normen bzw. Machtansprüche durch letzte ontologische oder anthropologische Argumente zu begründen. (...) – wer innerhalb der organisierten Gesellschaft auf die Dauer Macht haben und Herrschaft ausüben will, der muss (allerdings im Sinne der eigenen Macht und Herrschaft) bestimmte

lebenserhaltende,

also normsetzende Funktionen erfolgreich übernehmen können, und zwar unter Berufung auf den uns bekannten Grundsatz der sozialen Disziplinierung.« (meine Hervorheb. MuE S.67)

Daraus ergibt sich die These: Die formale Struktur ist Ausdruck der allseits und gleichzeitig erhobenen Machtansprüche.

Das Auseinanderhalten von Denkstruktur und Denkinhalt macht den Umstand verständlich, dass Feinde ihren Kampf gegeneinander unter Aufbietung desselben Denkmechanismus, also der gleichen Denkstruktur bei gleichzeitiger Abweichung der Denkinhalte der aus den Entscheidungen hervorgegangenen weltanschaulichen Denkbilder austragen. Der inhaltliche Unterschied bedeutet, dass die am Kampf beteiligten Feinde das Diesseits und das Jenseits auf ihre eigene besondere Weise erfassen und definieren und dass jede der gegnerischen Seiten aus dem Jenseits unterschiedliche Normen ableitet; »diese wesentlichen inhaltlichen Unterschiede oder gar Gegensätze stehen aber der Identität ihrer formalen Struktur keineswegs im Wege, obwohl die Identität den entsprechenden Entscheidungssubjekten unbewusst bleiben muss, damit sie ihre praktisch beflügelnden Glauben an die ausschließliche Wahrheit und Objektivität, also Einzigartigkeit des eigenen Weltbildes intakt erhalten können.« ( m. Herv. MuE S.67f) Also gilt für die formale Struktur: Der Machtanspruch erfolgt in Form der Unterscheidung von Jenseits und Diesseits bzw. Sein und Schein.

Unser Weltverständnis bzw. Weltbild ist unaufhebbar axiomatisch, und deshalb kann ein Jenseits auch ein Axiom oder eine Hypothese eines wissenschaftlichen Systems sein. Also gilt: »Die Bindung des Metaphysikbegriffs an die Transzendenz im Sinne des alten Jenseits oder ›des reinen Seins‹ ist nicht obligatorisch oder konstitutiv – obligatorisch und konstitutiv bleibt aber seine Bindung an das Überempirische, d.h. an das, was durch keine (sinnliche) Erfahrung direkt gefunden und auch durch keine (sinnliche) Erfahrung direkt einwandfrei bestätigt oder widerlegt werden kann. Gleichviel, ob es sich hier um Gott, um eine Weltformel oder um allgemeine Theorien oder Hypothesen handelt.« (m. Herv., Die neuzeitliche Metaphysikkritik (= nM) S.559) Den Subjekten der Entscheidung ist die Identität der formalen Struktur nicht bewusst, der Unterschied oder Gegensatz ihres Inhalts ist ihnen dagegen sehr wohl bewusst.

Daraus ergibt sich die auf den ersten Blick paradoxe Lage: Die unbewusste Identität treibt zur Feindschaft, der bewusste Unterschied wird zum Mittel von Rechtfertigung und Steigerung des Kampfes. Damit trägt die Identität der Denkstruktur zur Steigerung des inhaltlichen Gegensatzes bei. Das bedeutet, dass derjenige, der Machtansprüche erhebt, auf bestimmte Denkstrukturen von Jenseits und Diesseits zurückgreifen muss; »und der inhaltliche Gegensatz ergibt sich, weil sich die jeweilige konkrete Bestimmung von Jenseits und Diesseits von jener des Feindes unterscheiden muss, so dass sie als Waffe und zugleich Symbol des existentiellen Gegensatzes dienen kann.« (MuE S.68) Es besteht eine notwendige Zusammengehörigkeit zwischen formaler Struktur und inhaltlichem Gegensatz und nur wenn beide Aspekte der Entscheidungsstruktur zusammenwirken, wird die Erfüllung des Machtanspruchs möglich.

Ein theoretischer Vorzug der Vereinheitlichung des Sozialen

Das Spektrum der sozialen Beziehung ist durch die extreme Freundschaft (Selbstaufopferung) und die extreme Feindschaft (Fremdtötung) bestimmt. Dieser Aspekt ist die Polarität, das zweite Merkmal des Spektrums ist die Kontinuität. Das Spektrum der sozialen Beziehung muss als ein Kontinuum von Polarität und Kontinuität aufgefasst werden. (vgl. SO S.264) Das Spektrum gibt den Rahmen ab, innerhalb dessen sich soziales Leben abspielt. Dieser Rahmen ist, sozialontologisch betrachtet mit einem einzigen Stoff gefüllt, nämlich den sozial lebenden Menschen. Seine Grenzen sind zugleich äußerste Handlungsgrenzen der Spezies Mensch, jenseits dieser Grenzen gibt es nur das ›Nichts‹. Wissenschaftlich betrachtet, bietet die Perspektive der Polarität von Freundschaft und Feindschaft »den umfassendsten und zugleich flexibelsten, ja eigentlich den einzig denkbaren Einordnungsrahmen aller historisch bezeugten sozialen Beziehungen zwischen Menschen.« (SO S.265)

Es würde hier zu weit führen, den logischen Aufbau des Spektrums zu schildern; es muss die allgemeine Bemerkung genügen, dass die Fundamentierung des Spektrums unabhängig von triebanthropologischen oder strukturalistischen, psychologischen oder ethischen Gesichtspunkten erfolgt. Dies gilt für die Ebene der Grundlegung, denn auf der Ebene der Realität treiben allein die realen Inhalte – seien sie psychologisch oder ethisch – die Menschen zu ihren Beziehungen. Doch die konkreten Inhalte sind nicht Sache der Sozialontologie. Dies bedeutet: Die formale, von den jeweiligen Akteuren losgelöste Betrachtung, auf die die Sozialontologie wegen ihres Verallgemeinerungsanspruchs beschränkt ist, gewährt zwar grundlegende Einsichten in die elementare Mechanik der Kombinationsspiele von Freundschaft und Feindschaft, andererseits vermag sie nicht die Tatsache zu erklären, sondern nur zu registrieren, dass dieselben Akteure jeweils andere Plätze im Spektrum der sozialen Beziehung einnehmen. Die konkrete Analyse der konkreten Beziehung zwischen Freundschaft / Feindschaft muss sich der Historiker oder der Soziologe vornehmen. Während auf der Ebene der formalen Schilderung des Spektrums die Reihenfolge der Plätze stabil bleibt, bewegen sich die realen Akteure unaufhörlich hin und her im Kontinuum, das diese Plätze bilden. Diese verschiedenen Plätze im Spektrum haben keine existentiell und wesenhaft vorbestimmten Inhaber. Weder lässt sich Freundschaft den ›guten‹ noch Feindschaft den ›bösen‹ Akteuren zuteilen. Die Plätze des Spektrums stellen keine im Voraus bestehenden Leerstellen, die auf die geeigneten Akteure warten, um sich zu füllen, sondern ihr Verzeichnis bildet die abstrahierende Zusammenfassung aller historisch bezeugten sozialen Beziehungen zwischen den Menschen.

Mit dem genannten Aspekt der Polarität im Spektrum der sozialen Beziehung lässt sich zur These zurückkehren, dass jede Ethik, jede Morallehre, jede ethisch-normativistische Position, allgemein jedes Weltbild der Freund-Feind-Dichotomie entspringt; zusammen mit dem Faktum der zu allen Zeiten kontinuierlich bestehenden Vielfalt der Denkbilder führt dies auf die These: Der deskriptive Dezisionismus geht (..) von der elementaren, durch nichts wegzuinterpretierenden Tatsache der historisch überlieferten Vielfalt aus, erblickt ihre Ursache im Entscheidungs- bzw. Absonderungsakt oder -vorgang und sucht denselben unter Hinweis auf die notwendige Verwandlung des Selbsterhaltungsbestrebens in Machtanspruch begreiflich zu machen. (m. Herv. MuE S.39) Dies soll anhand der anthropologischen Fragestellung erörtert werden, wobei den Ausgangspunkt die Tatsache der Vielfalt der geschichtlichen Phänomene bildet. Diese führt zur Frage nach der Beschaffenheit des Wesens, das sie hervorgebracht hat. Die sozialontologisch orientierte Anthropologie soll also nicht den Menschen, sondern die unermessliche Vielfalt der geschichtlichen und sozialen Phänomene zum Ausgangspunkt nehmen und zu seinem Menschenbild als dem Endpunkt der Untersuchung gelangen, nachdem sie die Frage beantwortet hat: Wie muss der Mensch beschaffen sein, dass er sich mit dieser Vielfalt verträgt? »Der beste Ratgeber ist auch hier, so banal dies auch klingen mag, das im weitesten Sinne historisch gebildete und geprüfte Urteil, dem ›humani nihil alienum‹ ist. Der Mensch wird uns nicht in seiner stabilen Substanz, sondern in seinen unendlichen Metamorphosen zum vertrauten Wesen. Erst dann, wenn man mit Montaigne gesagt hat, man könne sich tausend gegensätzliche Lebensweisen vorstellen, wird man auch mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie Demokrit meinen dürfen: Der Mensch ist das, was wir alle kennen.« (SO S.217)

Es ist die Aufgabe der Sozialontologie, die biologisch-psychologische und die kulturell-soziale Dimension in einer Synthese zu fassen, ist doch die Kultur des Menschen ebenso Natur, wie seine Natur Kultur ist. (vgl. SO S.218) Es gibt nur ein einziges Raum-Zeit-Kontinuum, das nach soziologischen, historischen, biologischen etc. Gesichtspunkten getrennt oder gegliedert wird. Schon die Vertiefung in einen konkreten Fall – gleichgültig welche Disziplin sich für ihn zuständig fühlt – lässt das Kontinuum erraten, wobei das Kontinuum des Stoffes die Vielseitigkeit bedingt oder erzwingt. Die Vielseitigkeit ist keine bloße Form sondern geradezu eine Notwendigkeit der Forschungspraxis. Die Grundlegung bedeutet Abstraktion, Entfremdung von der Praxis. Der Druck des Kontinuums jedoch durchbricht in der Forschungspraxis die Grenzen, es findet eine epistemologische Osmose zwischen den Disziplinen statt. Kondylis spricht von der Notwendigkeit der Grundlegung und der Ungebundenheit der Forschungspraxis. Je konsistenter die Grundlegung, desto geringer die Gefahr, dass die Ergebnisse weder Fisch noch Fleisch sind.

Die Durchführung wird hier in der anthropologischen Perspektive erörtert, doch sie ließe sich genauso gut vom Politischen her oder von der sozialen Beziehung her darlegen. Der Mensch ist auch ein Tier, aber ›Tiere handeln nicht‹ (Aristoteles). Vom Biologisch-Verhaltensmäßigen her gilt: Der Mensch ist ein Tier, die Absicht ist es, die die spezifische Differenz ausmacht; vom Kulturell-Sozialen her gilt: Der Mensch ist ein handelndes Wesen, Verhalten und Handeln stehen sich gegenüber. Als handelndes Wesen ist der Mensch ein animal rationale, aber eben animal und rational, denn das spezifisch Menschliche wurzelt in einer besonderen Biostruktur als einer absoluten physischen (und genetischen) Voraussetzung. (vgl. SO S.446) Weder ist der Mensch ein Faktotum der Triebe, noch absoluter Herrscher über diese mittels seiner ratio.

Die Synthesis erfolgt auf sozialontologischer Ebene ganz allgemein. Jedes Handeln und sogar jede einzelne Handlung stellt ein jeweils anderes Mischungsverhältnis von animal und ratio dar.

Das sozialontologische Vorgehen

Die Sozialontologie geht vom Urfaktum einer bereits konstituierten Gesellschaft aus, sie operiert vor dem Hintergrund des Gesellschaftlichen und vertritt methodisch das Gebot der Reinheit. Auf den ersten Gesichtspunkt bezieht sich die Feststellung: alles, was sozial bedeutsam sein will, »muss sich so oder so in Ratio verwandeln bzw. als Ratio im elementaren Sinne der hier gemeinten Gestalt der Rationalität auftreten. (..) So gesehen gibt es im sozialen Zusammenleben für ›irrationales‹ oder ›triebhaftes‹ reinen Wassers kaum Platz.« (m. Herv., SO S.576) Reine Ausbrüche ›blinder‹ Triebe sind also eher biologische als soziale Phänomene. Der zweite Gesichtspunkt, der die methodische Umsetzung des ersten ist, betrifft das Gebot der minimalen Reflexivität aller sozialontologisch beschriebenen Mechanismen.

Das methodische Vorgehen, will die Sozialontologie ihrer Rede vom ganzen Menschen und zugleich ihrer Reinheit gerecht werden, muss das Psychologische einerseits in sich aufnehmen und andererseits begrifflich umarbeiten, reinigen, formalisieren, es unabhängig von den Inhalten machen. Dieser doppelgerichtete Prozess der Aufnahme und der Formalisierung wird in den verschiedenen thematischen Bereichen der Sozialontologie vorgeführt.

(a) Bei der Beschreibung des inneren Mechanismus (oder des Verstehens in der Sprache der Sozialwissenschaft) findet der Vorgang des Sichhineinversetzens in die Lage des Anderen in den Begriffen ›Perspektivenübernahme‹ und ›Perspektive der Perspektivenübernahme‹ ihren Niederschlag – und zwar mit dem ersten als Ausdruck des Interaktionellen und dem zweiten als Ausdruck des Psychologisch-Persönlichen (= Einfluss der Identität).

(b) Bei der Beschreibung der Rationalisierungsmechanismen z.B. der psychologischen Rationalisierung durch ihre Aufspaltung in zwei psychologische Rationalisierungsformen, als Legitimierung und als elementare reflexive Verarbeitung des psychischen ›Rohstoffes‹.

»Offenbar erlangen die Regungen, die in der kaum erforschbaren grauen Zone zwischen Biologischem und Psychologischem stattfinden, erst durch jene Verarbeitung praxeologische und sonstige Relevanz.« (SO S.576). Die psychologische Rationalisierung im Sinne der elementaren Verarbeitung unterzieht den rohen Stoff der existentiellen Tiefenschichten einem elementaren Veredelungsprozess (reflexive Verarbeitung), auf den jeder Mensch erst dann als handelndes Subjekt zurückgreifen kann. Dieser elementare Veredelungs- bzw. Verarbeitungsprozess stellt einen wichtigen psychologischen Entlastungsmechanismus gegen den Druck der triebhaften Schichten dar, die als rein ›Irrationales‹ bzw. ›Triebhaftes‹ keinen Platz in der Gesellschaft finden können. (vgl. SO S.576) »Der psychologische Rationalisierungsvorgang, der diese elementare Rationalität ergibt, verschafft den an sich stummen inneren Schichten der Existenz Ventile und Artikulation in einer Gesellschaft, die dem völligen Mangel an Rationalisierung nur mit dem völligen Mangel an sozialer Aufmerksamkeit begegnen kann.« (SO S.576)

Die reflexive Verarbeitung ist präsent, auch wenn das reflexive Moment auf die reflexive Komponente der Affekte reduziert wird. Triebe und Affekte als ›primäre Prozesse‹ im Sinne Freuds sind Reservoire von Handlungsmotiven und erlangen diesen Status erst, nachdem sie der elementaren psychischen Rationalisierung unterworfen wurden.

Von den Handlungsmotiven her gesehen, ergeben sich verschiedene Möglichkeiten, je nachdem, ob sie sich den reflektierten ›primären‹ Prozessen entgegenstellen oder nicht.

a) Stellen sie sich ihnen entgegen, dann lässt der Reflexionsfilter der ratio sie nicht durch, sie werden ins Reservoir der primären Prozesse zurückgeschickt. (vgl. SO S.576)

b) Der Reflexionsfilter leistet den Triebimpulsen keinen oder geringen Widerstand. Dann erlangen sie nach Überschreiten der Bewusstseinsschwelle den Status des Handlungsmotivs. Im Zustand tödlichen Hasses wird z.B. zum Küchenmesser gegriffen und nicht zum Staubwedel. Das Affektuelle selbst gehört handlungstheoretisch nicht zur Handlungskette, es wird, wie gesagt, zum Handlungsmotiv erst nach Überschreiten der Bewusstseinsschwelle. Die Verletzung des Gebotes der (auch minimalsten) Reflexivität würde die Soziologie grundlegungslogisch inkonsistent machen. Bisher wurde die Domäne des Biologisch-Psychologischen nicht verlassen, doch bereits hier finden Vermischungen zwischen den beiden Arten der psychologischen Rationalisierung statt. Der Weg aber kann auch anders herum gehen und der Grund dafür ist, dass der Mensch Gesellschaftswesen ist. Der Einfluss des Sozialen macht sich als Rationalisierungsdruck bemerkbar. Denn dieser verwandelt sich in einen Objektivierungszwang, weil Fragen nach den Motiven des Handelns gestellt werden. – Rationalisierungen können ihre Nahrung nicht nur aus den primären Prozessen beziehen, sie können sich mit Handlungsmotiven verbinden, die sich auf höheren Reflexionsstufen und im Gegensatz zum Drang der primären Prozesse bilden. Psychologische Rationalisierungen können also sehr vielfältig und vielschichtig sein. (vgl. SO S.577)

c) Für den Begriff des Motivs gilt Analoges; das Motiv wird ebenfalls analytisch aufgespalten, was sich als sinnvoll bei der Behandlung des Verhältnisses von Zweck und Motiv erweist. Die Antriebsfunktionen verbleiben beim Motiv im engeren Sinn, dagegen geht die Orientierungsfunktion auf den Zweck über. »Triebtheorien, die Triebe wie Motive behandeln, konzentrieren sich eindeutig auf die Antriebsfunktion und vernachlässigen die sozialontologisch entscheidende Orientierungsfunktion, also eben jene Dimension, die den direkten Übergang des Motivs in den Zweck erzwingt.« (m. Herv., SO S.462) Zweck ist der (teilweise) von außen kommende und sich nach außen orientierende Beweggrund; das Motiv im eigentlichen Sinn besteht dann in den inneren Gründen, die den Akteur dazu bringen, sich ausgerechnet diesen Zweck zu setzen. Die Aufspaltung bzw. Einteilung der Motive in äußere und innere lässt sich auch als Unterschied zwischen Weil-Motiv und Um-Zu-Motiv umschreiben.

Der synthetische Geist der Sozialontologie erweist seine methodische Fruchtbarkeit in einer Reihe von Teilsynthesen innerhalb der entsprechenden Hauptsynthesis. Im Rahmen der Explikation des sozialontologischen Begriffs der Identität und unter ihrer Obhut findet z.B. eine ›Teilsynthese‹ vom symbolisch–expressiven und instrumentellen Aspekt einer Handlung statt. Ohne geordnete Welt gibt es keine Identität. Die Entscheidung schafft Ordnung; daraus entsteht zugleich der Platz des Subjekts der Entscheidung innerhalb des weltbildlichen Rahmens; die Raumkoordinaten, bildlich gesprochen, dieser durch die Entscheidung entstandenen Stelle bilden zugleich die Antwort der Identität auf die Sinnfrage. Es ist so, dass dann, wenn es um die Beschaffenheit (um die inhaltliche Bestimmung der Rationalität) der Zwecke geht, sich die Identität (in Gestalt ihrer gerade herrschenden Logik) meldet. Somit finden Sinn- und Identitätsfrage – über die Festlegung der (letzten) Handlungszwecke – Eingang in die Rationalitätsproblematik, d.h. sie übernehmen die Bestimmung dessen, was als Rationales oder Irrationales gelten soll. »Die gebieterische Logik der Identität kann (sie muss es nicht) sowohl bei ›Irrationalisten‹ als auch bei ›Rationalisten‹ auf der Handlungsebene ›Irrationalitäten‹ in Form des Überhandnehmens von symbolisch-expressiven gegenüber instrumentellen Faktoren bzw. gegenüber der Logik der Situation hervorrufen.« (m. Herv. SO S. 586) Den expressiven Handlungskomponenten kann man eher »die Attribute des Spontanen, weitgehend biopsychisch Determinierten, Unkontrollierten oder Unkontrollierbaren und des Selbstzweckes,« den instrumentellen »eher die Attribute des Zweckmäßig-Geplanten, weitgehend kulturell bedingten, leichter Kontrollierten oder Kontrollierbaren und des Mittels zuschreiben.« (m. Herv. SO S.587) Wenn hier der Begriff des Zweckes provisorisch und als Verständnishilfe durch den Begriff des Interesses ersetzt wird, um den Anteil des Instrumentellen zu unterstreichen, dann sind die folgenden Phänomene, die auf die Übermacht der Identität verweisen, leichter verständlich.

Dieselbe Missachtung des Interesses wie z.B. bei Rache oder wegen Ehrverletzung kann ebenso gut zu altruistischen Handlungen und persönlichen Opfern motivieren. Auch hier verbindet die Identität ihre Selbstbestätigung mit dem Verzicht auf Wahrung des eigenen Interesses: wenn jemand aus Respekt vor sich selbst nicht anders handeln kann, etwa ein entbehrungsreiches Leben im Dienste der Armen führt oder aus eigenem Entschluss sich für etwas opfert. (vgl. SO S.587) Die Hervorhebungen der Begriffe Selbstzweck oder Interesse sollen auf den Einfluss der Identität zur Bestimmung dessen, was jeweils als Zweck, Wert oder Interesse zu gelten hat, aufmerksam machen.

Auf den Einfluss der Identität auf solche Phänomene wird, außer im Rahmen ihrer abstrakt-allgemeinen Behandlung, konkret am Beispiel von M. Webers Inkonsistenzen bei der Definition dieser Begriffe eingegangen, die darauf zurückzuführen sind, dass er die Begriffe der Zweck- bzw. Wertrationalität auf der Grundlage einer Handlungstypologie zu entwickeln versucht, die, aufgrund der Wirkung kulturkritischer Motive (z.B. idealtypische Gegenüberstellung von Prophet (Wert-) und Kapitalist (Zweckrationalität bzw. kapitalistisch verstandenes Interesse), darunter leidet, dass sie mithilfe von heterogenen Kriterien erstellt wird, die einerseits dem Historisch-Sozialen und andererseits dem Ontologischen entspringen. Zu diesem letzteren gehören die Begriffe zweck- und wertrationales Handeln. Durch die Homogenisierung der Weberschen Handlungstypologie auf der Grundlage eines einzigen Einteilungskriteriums gelingt Kondylis die Verwischung der Grenze (also ›Aufhebung‹ durch Synthese) zwischen Wert- oder Zweckrationalität und ihre Subsumierung unter einem höheren und formalen Rationalitätsbegriff, so dass er der Dichotomie Vormoderne-Moderne (historisch-sozialen Begriffen) entkommen kann. Deren Aufhebung erst macht einen unbefangenen Blick auf die Geschichte der Menschheit möglich. Er ist keineswegs gezwungen, das Soziale unter Zugrundelegung von Begriffen zu beschreiben, die dem Funktionsmodus einer bestimmten Gesellschaftsformation entsprechen, im Hinblick z.B. auf die massendemokratische Sozialtheorie dem individualistischen Ausgangspunkt (soziologisch, sozial: Atomisierung) oder Evolution, Komplexität oder Differenzierung als Begriffe, die an die geschichtsphilosophische Auffassung von Geschichte als eines stufenweisen Entwicklungsprozesses von ›niederen‹ zu ›höheren‹ Formen der Gesellschaft erinnern, während die Sehnsucht der Befürworter der ›Gemeinschaft‹ und verschiedener Kommunitarismen auf der Basis genau der gleichen Dichotomie diesen Prozess mit negativem Vorzeichen versieht, um ihre Überzeugung zu bestätigen, dass die Geschichte vom Schlechten zum noch Schlechteren unaufhaltsam fortschreitet. Wieder könnte man auch hier die Notwendigkeit einer Einführung der Sozialontologie sehen.

Nach M. Weber können nur bestimmte Zwecke, nicht alle, Zwecke im Sinne der Zweckrationalität sein; es kann keinen ethischen Zweck geben. Dennoch kann die Realisierung eines Wertes (hier der Heiligkeit) ebenso gut Handlungszweck sein, wie die Realisierung irgendeines Zweckes. Denn jede Handlung ist definitionsgemäß rational, alle Menschen verfolgen bestimmte Zwecke, die sie durch den Einsatz von zweckdienlichen Mitteln zu erreichen suchen. Das gleiche gilt für den Wertbegriff, denn ›Wert‹ im Sinne der Weberschen ›Wertrationalität‹ verweist nur auf ideelle, d.h. ethische oder religiöse Werte. Was ist aber im Falle von Zielen, die eben deshalb angestrebt werden, weil man ihnen einen psychologischen, materiellen Wert zuschreibt? Handlungsmotive, kommentiert Kondylis, werden durch Werte, Wertungen bzw. Bewertungen gebildet.

Es ist praktisch unmöglich nicht zweckbezogen zu handeln. Nur ein Beobachter könnte die Handlung von außen und nur vor dem Hintergrund einer bereits vorhanden (inhaltlichen) Wertetafel als rational oder irrational einstufen. Das Kriterium der Erreichbarkeit der Zwecke nach Aristoteles oder Pareto z.B. führt auf die Frage, wer darüber entscheidet.

Der Mensch als Summe interaktiver oder intersubjektiver Funktionen

Die restlose Auflösung der Substanz bildet das zentrale Ereignis der geistes- und philosophiegeschichtlichen Wendung vom synthetisch-harmonisierenden (bürgerlichen) Denken zum analytisch-kombinatorischen (massendemokratischen oder modernen und postmodernen). Dieser totalen Auflösung stand (theoretisch) wenig im Wege, nachdem die mathematische Naturwissenschaft den Begriff der Funktion ausgearbeitet und durch die funktionale Auffassung vom Naturgesetz die scholastisch-aristotelische Hierarchie der Substanzen selbst zertrümmert hatte. Die Auflösung der menschlichen Substanz war die notwendige Folge der Auflösung aller anderen Substanzen. Nachdem die äußere Natur funktionalisiert bzw. atomisiert (in Eindrücke und Sinnesempfindungen aufgelöst wurde), wurde auch der Mensch in ähnlicher Weise aufgelöst, bis er nicht mehr als substantielle Einheit erkennbar war. Er erscheint nunmehr als bloßes Bündel von Sinnesempfindungen, Assoziationen, ohne festen substantiellen Kern und ohne bleibende durch vernünftig-intellektuelle Kräfte gelenkte Identität. (vgl. Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform S.134ff, 267ff) Die funktionalistische Systemtheorie möchte uns durch restlose Auflösung der Subjekte in die Funktionen intersubjektiver Interaktion, vom Dilemma zwischen dem Primat des Individuums und dem der Kultur wählen zu müssen, befreien. (vgl. SO S.63) Gegen das substantialistische Wesen der Handlungssubjekte bietet sie die These auf, diese Subjekte gingen nicht dem System voraus, sondern bildeten sich erst in ihm heraus. Das aber scheint selbstverständlich, denn »niemand hat je die Theorie aufgestellt, dass die Menschen erst in der Isolierung als Individuen herausgebildet werden und dann an der sozialen Interaktion teilnehmen. Schon der antike Topos vom Menschen als sozialem Wesen implizierte die anthropologisch konstitutive Bedeutung der Intersubjektivität und der Interaktion,« (SO S.64) der Topos verstand aber unter Interaktion und Intersubjektivität nicht die totale Auflösung bzw. Reduktion des Menschen in eine Summe interaktionell bedingter Funktionen.

Die Grenzen der Funktionalisierung der ›Substanz‹ Mensch

»Man stößt unweigerlich auf die biologische Beschaffenheit des Menschen und eine Vielfalt damit zusammenhängender psychischer und sonstiger Faktoren, die sich zwar durch Interaktion entfalten müssen, aber keineswegs Funktionen von Interaktionen sind. Das jenseits der Interaktion liegende kann zwar selber ›substanzialistisch‹ oder›funktionalistisch‹ gedeutet werden, es hört deshalb nicht auf, die Grenzen des Funktionalen als Interaktivem anzuzeigen.« (SO S.64) Die Ausschaltung des Subjekts, des schlechten »subjektzentrierten Fundamentalismus« (Flügel-Martinsen), also die radikale Ablehnung der Subjektphilosophie bedingt Gemeinsamkeiten zwischen ansonsten theoretischen Rivalen, welche darauf zurückzuführen sind, dass sie zum gleichen massendemokratischen Paradigma bzw. Denkstil gehören. Die Systemtheorie sichert die Rationalität des Systems, indem sie den unberechenbaren Menschen in die ›Umwelt des Systems‹ verdrängt; die normative Kommunikationstheorie verdrängt ihn in die Umwelt der Kommunikation, »während am Kommunikationssystem nur jener Teil oder Aspekt des Menschen teilnimmt, der den mentalen und vor allem den ethisch-normativen Forderungen der Kommunikation am ehesten genügen dürfte. Beide Auffassungen nehmen also eine Zweiteilung des konkreten Menschen vor, um jenen Teil theoretisch zu privilegieren, der die Einordnung in ein glatt funktionierendes soziales Ganze ermöglicht.« (SO S.65)

Im Gegensatz zur Systemtheorie hat freilich die Kommunikationstheorie ethische Sorgen, dieser Unterschied jedoch hebt sich selbst auf. Die ›universelle Vernunft‹ ist von allen Zufälligkeiten und Unwägbarkeiten entlastet (Kants, Husserls transzendentales Subjekt), sie ergibt sich aus der Struktur ›wahrer‹ Kommunikation. (Kantische Reminiszenzen ohne Subjektphilosophie!) Die ›Systemrationalität‹ löst die ethisch-normative Dimension der ›Personalsysteme‹ in Funktionen auf. Da sie keine ethischen Sorgen hat, redet sie offen vom Instrumentellen, wobei das Inhaltliche auf der ganzen Linie vom Formal-Verfahrensmäßigen ersetzt wird. (vgl. SO S.26) Die ›Systemrationalität‹ ist also eine Art Hegelscher ›List der Geschichte‹.

Nun bedeutet die Ablehnung des traditionellen ontologischen oder anthropologischen Substantialismus gleichzeitig die Weigerung, die ethisch-normativen Inhalte aus als Substanzen verstandenen Größen zu gewinnen; dann bleiben nur noch Verfahren übrig. Bei aller Beschwörung der Vernunft lassen sich keine Angaben über konkrete Inhalte des jeweils durch Diskurs zu erreichenden Konsenses machen. Wahrheit ist bloß Funktion oder Ergebnis des aufgrund der Einhaltung von bestimmten Verfahrensregeln sich einstellenden Konsenses, Legitimation erfolgt durch Verfahren. »Echter Konsens wird da erzielt, wo die Regeln echter Kommunikation angewandt werden, aber zwischen so verstandenem echtem Konsens und wahren Inhalten kann keine logisch zwingende Beziehung hergestellt werden.« (SO S.27)

Soziologisch findet das seine Erklärung darin, dass nur innerhalb eines bereits vollständig atomisierten Ganzen und eines solchen entsubstanzialisierten Ganzen Funktionen zur Erschaffung von komplexen Systemen und von Kommunikationsnetzwerken eine conditio sine qua non sind. (Da die letzten Bestandteile bzw. Atome untereinander gleich sind, sind auch keine substanziellen Unterschiede möglich.) Dies ist der Sinn der Wendung der sozialtheoretischen Betrachtung vom bürgerlichen Substantialismus zum konsequenten massendemokratischen Funktionalismus.

Die ethische Absicht gewinnt hier Vorrang gegenüber dem Methodischen. Auffällig ist die Ähnlichkeit fundamentaler Begriffe von geistesgeschichtlichen Richtungen wie der Kantischen, der Husserlschen und der normativen Kommunikationstheorie. »Die transzendentale Ausrichtung ist schließlich maßgeblicher als das formelle Ausgehen von der Subjektivität oder der Intersubjektivität, wenn ohnehin harmonisierend-kommunikative Ziele vorschweben, zu deren Realisierung vernunftbegabte Menschen aufgerufen wurden.« Die Kommunikationstheorie »muss sich gleichermaßen der transzendentalen Epoche zumindest in der Form bedienen, dass sie von den irreduzierbaren (individuellen, akzidentiellen etc.) Differenzen der Subjekte voneinander a limine absieht, um der allen gemeinsamen und bei allen gleichen kommunikativen Vernunft den Boden zu bereiten.« (SO S.409) Die Differenzen im Methodischen werden vom Vorrang der ethischen Absicht überschattet: Kants, Husserls und Habermas’ Subjekt ist ein gemeinsames transzendental gereinigtes Ego, ohne Realitätsgehalt, d. h. kein empirisches Ego. »Die transzendentalen Brücken zwischen Subjektphilosophie und Theorien über Kommunikationsgemeinschaften vernünftiger Subjekte sind übrigens sehr alt: Die klassische Subjektphilosophie hat die eigenen Säkularisierungen des ›religiösen Motivs der Bundesgenossenschaft‹ produziert, z.B. durch den jungen Hegel in der Phase seines radikalen Kantianismus und im Anschluss an wegweisende Auffassungen Fichtes.« (SO S.410)

Die Verflechtung von Sein und Sollen oder
die Ontologisierung genuin anthropologischer Attribute, die verhüllte Anthropologie

System- und Kommunikationstheorie verzichten auf die konkrete Angabe anthropologischer Inhalte, und wo solche zum Einsatz kommen, werden sie einem abstrakten Bild vom Menschen entnommen. Die Kommunikationstheorie redet aber darüber hinaus von Selbstverwirklichung. Mit der Anmeldung von Selbstverwirklichungsansprüchen fällt das letzte Feigenblatt der vermeintlichen anthropologischen Neutralität, denn Selbstverwirklichung ist ein sozialethisches Ideal. Doch es ist die Frage, welches Wesen – ob ein gutes oder böses – hier zur Verwirklichung kommen soll. Der ausdrückliche Verzicht auf anthropologische Fragestellungen dient der Verschleierung der eigenen Anschauung über das echte Wesen der am Diskurs Beteiligten. »Die Banalität der anthropologischen Annahmen, auf denen die Theorie des kommunikativen Handelns stillschweigend beruht, lässt sich übrigens schlecht hinter dem behaupteten Primat der Sprachstrukturen und -akte verbergen. Diese werden ja nach spezifisch menschlichen Verhaltensweisen (strategisches etc. Handeln) unterteilt und sogar ausdrücklich mit guten oder schlechten Absichten aufgeladen. Dies ist z.B. der Fall, wenn unter den Merkmalen, die die Sprechakte des kommunikativen Handelns auszeichnen sollen, die Wahrhaftigkeit genannt wird. Wahrhaftigkeit ist aber die bewusste moralische Eigenschaft eines Subjekts, ein Sprechakt, der sich als Satz formiert hat und nun unabhängig vom Subjekt existiert, ist weder wahrhaftig noch unwahrhaftig, sondern einfach wahr oder falsch.« ( m. Herv., SO S.66) Wahr und falsch, gut und böse sind moralische Eigenschaften eines Subjekts. Folglich wird hier eine Verflechtung von Sein und Sollen vorgenommen. »Aus dem Attribut der Perfektion muss die Realität bzw. Realisierbarkeit als von der Perfektion untrennbare Eigenschaft abgeleitet werden.« (SO S.418) Das echte und wahre Sein ist der Originalmodus der Kommunikation, der sich aus dem Originalmodus der Sprache ergibt; hier liegt eine Ontologisierung anthropologischer Attribute vor: Was oder wer steht also hinter der Sprache? »Auf der Folie der (..) Verflechtung von Sein und Sollen geht dann eine Verwechselung der Ebene des kommunikativen Handelns mit der Ebene der kommunikativen Handlungstheorie vonstatten. Da die Theorie kommunikatives Handeln treffend schildert und da solches Handeln ethisch-normative Ansprüche enthält, so will die Theorie aus dem ethisch-normativen Wesen dessen, wovon sie spricht [früher: Gott, jetzt: echte Kommunikation], ein eigenes Recht ableiten, ethisch-normative Anweisungen zu formulieren. Aber die Ebene der Schilderung und jene der Realität, in der sich solche Anweisungen zu bewähren haben, sind offenbar zweierlei. Wir kehren somit auf einem neuen Umweg zu den alten Aporien des ontologischen Gottesbeweises zurück.« (m. Herv., SO S.418)

Es stellt sich die Frage nach den Vorbedingungen, auf die der Verlauf des kommunikativen Handelns angewiesen ist. Denn diese Frage taucht auf, wenn man zwischen Metakommunikativem und Kommunikativem unterscheidet. Die einzige Bestimmungsinstanz der Annahme der (metakommunikativen) Vorbedingungen kann nur das Subjekt bzw. die Entscheidung des Akteurs sein, die nämlich, dass er sich kommunikativ verhalten will und zwar kommunikativ im ethisch-normativen Sinn. Damit ist er an Normen gebunden, »keine Norm schreibt aber vor, dass man überhaupt kommunikativ handeln soll. Die Aufstellung von Normen, die derlei gebieten, läuft auf die Konstruktion einer Ethik hinaus, und der Appell die Normen dieser Ethik zu achten, muss sich an die Einsicht und das Gewissen des Einzelnen richten, um diesen zur Entscheidung zu bewegen, kommunikativ und nicht strategisch zu handeln.(..) Lässt sich der Faktor ›Entscheidung‹ und ›moralisches Bewusstsein‹ nicht umgehen, so erweist sich die angebliche Überwindung der Subjektphilosophie als Fiktion.« (SO S.419)

Es war der Neopositivismus, der sich mit der ›linguistischen Wende‹ bemüht hat, den Einfluss der Sprache und die Unwägbarkeiten des ›subjektiven‹ Faktors durch die Schaffung eines kommunikativ verbindlichen sprachlichen Organs auszuräumen. »Es mag paradox klingen und dennoch ist es wahr: Wenn die Theorie des kommunikativen Handelns der Bewusstseinsphilosophie und der Anthropologie ausweicht, um die Verbindlichkeit des Ethisch-Normativen mit der Verbindlichkeit sprachlich/kommunikativer Regeln zusammenzuführen und zu denken, dann versucht sie auf dem Gebiet der Sozialtheorie dasselbe, was der Neopositivismus auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie und der Epistemologie vergeblich unternommen hat, nämlich Handlungen aus dem richtigen Sprachgebrauch herzuleiten.« (SO S.28)

Mit Blick auf die Geistesgeschichte lässt sich daran erinnern und zusammenfassend feststellen, dass der Theozentrismus nicht die persönliche Herrschaft Gottes bedeutet, sondern dass Menschen walten, die ihre Taten unter Berufung auf Gott legitimieren. Entsprechend bedeutet der Anthropozentrismus, dass bestimmte Menschen unter Berufung auf den Menschen jene verdrängen, die bis dahin Gott in Anspruch nahmen. Und der Untergang des Anthropozentrismus besagt nicht, dass es keine Menschen (im bisherigen Sinne) mehr gibt, sondern dass Menschen, die die geschichtliche Bühne betreten haben, die Anhänger des Anthropozentrismus bzw. diejenigen Menschen besiegt haben, die ihre Herrschaft unter Berufung auf dem nach ihren ideologisch-legitimatorischen Bedürfnissen zurechtgemachten Bild vom Menschen gründeten (die ›Idee des Menschen‹).

Die ontologische Frage, was gibt es wirklich?, wird durch die Sozialontologie klar beantwortet: Auf der geschichtlichen Bühne standen immer nur Menschen und nichts anderes. Das ist die nicht mehr hinterfragbare Grundhypothese, die axiomatische Grundlage, die theoretische Grundentscheidung bzw. der Machtanspruch des Wissenschaftlers Kondylis. Diese Grundlage bildet den Ausgangspunkt der Untersuchungen, die zu bestimmten Resultaten gelangen. Die Kritik dagegen, will sie wissenschaftlich sein, müsste entweder diese axiomatische Grundlage umstoßen, einen anderen Ausgangspunkt als die Konstante ›Selbsterhaltung‹ nehmen, (ohne irgendeiner Art von Platonismus zum Opfer zu fallen) oder durch die konkrete Analyse eines geistesgeschichtlichen Denkbildes, das auf andere Art und Weise entstanden ist und sich entfaltete oder andere Funktionen erfüllte, als die durch den deskriptiven Dezisionismus beschriebenen. Die weitere Möglichkeit besteht im Nachweis logischer Widersprüche, von Lücken, inkonsistent definierter Begriffe etc.

Die Bezeichnung ›falsch‹ (vgl. erstes Zitat zu Flügel-Martinsen) betrifft im Sprachgebrauch von Kondylis die Kennzeichnung von logischen Fehlern, er sieht seine Position, wie erwähnt, als eine historisch bedingte an und behauptet nicht – wie Flügel-Martinsen unterstellt – im Besitz der ›wahren‹ Objektivitätserkenntnis zu sein. Sein Ziel ist der Entwurf einer in sich widerspruchsfreien Theorie, die ihre Stärke in der Erklärungskraft der Phänomene beweisen soll. Der Anspruch nach einer in sich schlüssigen Theorie schließt aus, dass die Denkmodelle anderer Theoretiker mit Leim und Schere eingefügt werden – was F.-M. kühn konstatiert: »Im Grunde lässt sich der in Macht und Entscheidung dargelegte Theorierahmen als eine Kombination bestimmter Denklinien Nietzsches und Schmitts verstehen.« (AD S.371)

Nietzsches Frage nach der Möglichkeit der Überwindung von Metaphysik und seine Forderung nach Einsicht in die Fiktivität und Konventionalität der begrifflichen Schöpfungen hebt Kondylis heraus. Doch zu dieser schätzenswerten Skepsis, die er mit ihm teilt, gerät dieser für Kondylis in Widerspruch, wenn Nietzsche erklärt, dass »jeder skeptische Hang eine große Gefahr für das Leben« bedeute und wenn er entgegen seinem Skeptizismus aus rein polemischen Gründen zur traditionellen Metaphysik ein Gegenideal entwirft. (vgl. nM 542f)

Das Freund-Feind-Phänomen wird bei Kondylis in einem anderen Rahmen als bei Schmitt gesehen. »Der logische Fehler C. Schmitts, der das Politische – allerdings in Unkenntnis seiner sozialontologischen Dimension – an Hand des ›Freund-Feind‹-Kriteriums hat definieren wollen, bestand in der Verwechselung der sozialen Beziehung überhaupt mit dem Politischen. Gewiss, das Politische ist soziale Beziehung und als solche umspannt es das ganze Spektrum der sozialen Beziehung überhaupt, einschließlich seiner beiden äußersten Grenzen, nicht alle soziale Beziehungen sind aber politisch, obwohl sie dasselbe Spektrum aufweisen wie die politischen auch; die spezifische Differenz der umfangreicheren Gattung fällt nicht mit jener der weniger umfangreichen zusammen, ergo ist die spezifische Differenz des Politischen nicht in der Markierung des politischen Spektrums durch die Extreme der Freundschaft und der Feindschaft zu suchen. Mit anderen Worten: Das Pferd ist in der Tat ein vierbeiniges Wesen, definiert man es aber auf der Basis dieser realen Eigenschaft, so verwischt man seinen Unterschied mit einem Hund.« (SO S.209, Anm.242)