Die 1968er und die nationale Frage – links und rechts
Eine historische Studie erweitert den Blick

Manuel Seitenbecher: Mahler, Maschke & Co.: Rechtes Denken in der 68er-Bewegung? Paderborn: Schöningh 2013. 557 Seiten.

1999 traten drei ehemalige 68er, Horst Mahler, Günter Maschke und Reinhold Oberlercher mit einer »Kanonischen Erklärung zur Bewegung von 1968« an die Öffentlichkeit. Überraschend postulierten sie, die 68er-Bewegung sei in ihrem Kern eine nationalrevolutionäre Bewegung gewesen. Da alle drei inzwischen auf der äusseren Rechten gelandet waren, unterstellten sie damit der aufrührerischen Neuen Linken eine rechtsgerichtete Grundlinie.

Die ›Erklärung‹ kam auf paradoxe Weise jenen liberalen Kritikern der 68er entgegen, die wie Kurt Sontheimer, Erwin K. Scheuch, Richard Löwenthal und auch Jürgen Habermas schon zur Zeit des Jugendaufruhrs von totalitären Tendenzen und ›linkem Faschismus‹ als Merkmalen der 68er gesprochen hatten. Die Faschismusanalogie wurde später von linken Kritikern (und Renegaten) wie Gerd Koenen, Götz Aly und Wolfgang Kraushaar weitergeführt. Offen blieb jedoch, ob sich die Etiketten ›nationalrevolutionär‹, ›faschistisch‹ und ›rechts‹ überhaupt in eins setzten lassen?

Nun hat sich ein Historiker durch diese verwirrende Situation herausfordern lassen, das Verhältnis der 68er-Bewegung zur nationalen Frage und zur deutschen Rechten genauer zu beleuchten. Er versucht, den Etikettenstreit durch lebensgeschichtliche, biographische Präzision zu überwinden. Das ist ein anspruchsvolles Programm, sowohl inhaltlich als auch methodisch. Die Dissertation von Manuel Seitenbecher wurde 2012 an der Universität Potsdam angenommen und mit Summa cum laude beurteilt.

Biographien im Wandel

Das Vorgehen der Untersuchung ist biographisch, mit einem Blick außer auf Mahler, Maschke und Oberlercher auch auf Bernd Rabehl, Rudi Dutschke und Tilman Fichter. Kurze Seitenblicke auf rechte und konservativ-liberale Konvertiten aus dem 68er-Feld wie Thomas Schmid, Rainer Langhans, Peter Schütt, Werner Olles, Peter Furth und Klaus Rainer Röhl zeigen, dass es sich alles in allem nicht nur um Einzelfälle handelt. (Darüber hinaus wäre es übrigens angebracht, auch andere ›nationale Linke‹ wie Günter Nenning, Wolfram Venohr, Sebastian Haffner, Peter Brandt, Herbert Ammon und Günter Platzdasch oder auch rechte Konvertiten wie Alfred Mechtersheimer, Rainer Zitelmann, Rolf Stolz und Jens Litten in solche vergleichenden Betrachtungen einzubeziehen.)

Analytisch geht es, so das einleitende Kapitel, um dreierlei: An den Biographien der Protagonisten werden Brüche und Wandlungen beobachtet, aber es wird auch nach Konstanten gefragt. In einem zweiten Schritt werden die biographischen Befunde dann mit der 68er-Bewegung im allgemeinen verknüpft, zumal die Protagonisten als führende Gestalten der Bewegung galten. Und schließlich gibt das Material Stoff zum Nachdenken darüber, ob und wie weit die Einschätzung der Neo-Rechtsradikalen über das ›nationalrevolutionäre‹ 1968 zutreffe, und insbesondere über die Rolle der nationalen Frage in diesem Zusammenhang.

Es geht also um dreierlei: um Biographien, um die nationale Frage und um die Bewegung. Dazu arbeitet die Dissertation ein reiches, aber unübersichtliches Quellenmaterial auf – von Stasi-Archivmaterialen bis hin zu Interviews mit ›Ehemaligen‹. Dass sie dieses Materials Herr wird, ist eindrucksvoll und bislang einzigartig.

Kapitel zwei versucht historische Begriffsbestimmungen und zeichnet deren kontroversielle Bewertungen nach : Was ist unter ›1968‹, ›rechts‹ und ›links‹, ›Extremismus‹ und ›Radikalismus‹ zu verstehen?

Auf dem Weg in die Bewegung

Kapitel drei beschreibt die Wege der einzelnen Protagonisten in die Neue Linke hinein, bevor es 1968 zur Eskalation der Bewegung kam. Rabehl und Dutschke kamen von der Subversiven Aktion her und hatten einen Hintergrund in der situationistischen Gesellschaftskritik und der Frankfurter Schule. Beide kamen zudem aus der DDR und erlebten damit eine doppelte Entfremdung: gegenüber der DDR und der BRD. Sie bezeichneten sich als ›Abhauer‹ oder ›Ostler‹. Auch Maschke stiess, von der verbotenen KPD und vom Ostermarsch her kommend, zur Subversiven Aktion. Über Frantz Fanon identifizierte man sich hier nun mit der antikolonialen Bewegung in der Dritten Welt. Aktionsformen wie Sit-in und Teach-in verbreiteten sich. Fichter und Mahler stellten sich zunächst gegen die Unterwanderung des Berliner SDS durch die anti-autoritären Subversiven, waren aber zugleich fasziniert. Für Unruhe sorgte die Deutschlandsfrage, sobald es zu Gesprächen zwischen SDS und FDJ kam: Sollte man sich mit der nationalen Frage beschäftigen, oder diese als anachronistisch ansehen? Eine besondere Rolle spielte Mahler, der von einer schlagenden Verbindung her in die SPD eintrat, sich dann dem SDS zuwandte und als Anwalt der Kommune I sowie im Zusammenhang mit Dritte-Welt-Aktionen auftrat, in der Kubakrise und bei der Störung des rassistischen Films Africa Addio.

Kapitel vier schildert die Hauptjahre der 68er Bewegung. Jetzt kam es zu Konflikten zwischen traditionellen Marxisten und Antiautoritären. Man schulte sich an marxistischen, sozialistischen und anarchistischen Autoren (keineswegs solchen der ›konservativen Revolution‹). In der Praxis kam es zu Zusammenstößen mit der Polizei, aus deren Anlass Zeitungen erstmals Dutschke als ›Führer‹ herausstellten. Das Verhältnis zwischen den Aktivisten und der Bevölkerung, besonders in Berlin, polarisierte sich, aber die Erschießung des Studenten Ohnesorg schuf auch Solidarität. In Hamburg, wo der SDS nur eine kleine Gruppe ausmachte, trat nun Oberlercher hervor, insbesondere als Akteur gegen nazibelastete Professoren. Außerdem entwickelte sich ein Happening um die Statue des Kolonialforschers Wissman zum Sturz des Denkmals. Eine literarische Szene entfaltete sich, insbesondere um die Zeitschrift Konkret.

Auf der Ideologie-Ebene stießen der voluntaristische Aktionismus von Dutschke und Rabehl zusammen mit Habermas’ Vorwurf des ›linken Faschismus‹. Die Revolutionäre antworteten mit einer Kritik am ›Theoriefetischismus‹ der Frankfurter Schule und beriefen sich auf Mao, Che Guevara und Frantz Fanon, aber auch auf Bakunin, Rosa Luxemburg und Herbert Marcuse. Es kam zu einer breiten Faschismusdebatte, in der einerseits die 68er und andererseits der Bonner Staat als ›faschistisch‹ etikettiert wurde. Die Diskussion hatte Berührungspunkte mit einer Demokratiedebatte, in der es um ›Formaldemokratie‹ und ›Konsumgesellschaft‹, um Konsens und Konflikt, um Totalitarismus und Rätedemokratie, um Antiparlamentarismus und die Politisierung des Privaten, um Volk und Avantgarde ging.

Direkter an die nationale Frage führte die Amerika-Frage heran: Einerseits solidarisierte man sich mit dem ›anderen Amerika‹ der Bürgerrechtler und Afroamerikaner sowie der US-Studenten gegen den Vietnamkrieg und übernahm auch Elemente der amerikanischen Protestbewegung wie Sit-in, Teach-in und Protestsongs. Aber andererseits waren antiamerikanische und antiwestliche Untertöne nicht zu überhören: ›USA – SA – SS‹. In ihrer Solidarisierung mit der antikolonialen Bewegung der Trikontinentale wichen die 68er zwar vor dem Nationalismus keineswegs scheu zurück, sei es in Bezug auf Vietnams FNL, Che Guevara, Fanon, irische IRA oder baskische ETA. Man vermied jedoch nach Kräften, das Wort ›national‹ auf die deutsche Lage anzuwenden. Allerdings gaben Dutschke und Rabehl unter Pseudonym und im vertrauten Kreis zu erkennen, dass hier ein Problem lag und sprachen vom ›westdeutschen Separatstaat‹ und ›sozialistischer Wiedervereinigung‹. Dennoch blieb der Internationalismus eine beherrschende Ersatzidentifikation. Erst in den 70er Jahren sprachen Linke das Problem offen an, sowohl in einer vielbeachteten Artikelserie in Das da/avanti als auch in einigen K-gruppen.

Hieran anschliessend beleuchtet Seitenbecher die Beziehungen rechts-nationaler Gruppen zur 68er Bewegung. Dort war, vor allem bei NPD und Deutscher National-Zeitung, ein wütender Antikommunismus vorherrschend. Nationalneutralisten wie August Haussleiters AUD und Wolf Schenkes Neue Politik suchten hingegen Kontakt, und Studenten des ›neuen Nationalismus‹ bemühten sich darum, ›von der Linken zu lernen‹. Keinem von diesen gelang es, mit den 68ern über die nationale Frage ins Gespräch zu kommen.

Zerfall und Rechtswendung

Kapitel fünf führt die biographischen Linien fort in die 70er Jahre hinein. Die Bewegung zerfiel in orthodoxe K-Gruppen, die Stadtguerilla der RAF, undogmatische Linke, und ausserdem wirkte Willy Brandts SPD anziehend. Rabehl zog sich in die akademische Berufslaufbahn zurück und schuf sich Feindschaften ringsum. Mahler ging in den bewaffneten Kampf, brach dann aber mit der RAF und wandte sich der KPD zu. Maschke konvertierte in seinem Exil in Kuba vom Leninisten zum Renegaten und wandte sich Carl Schmitt, der antidemokratischen Konterrevolution und der faschistischen Rechten zu. Bei ihnen allen spielte die nationale Frage – im Gegensatz zu Dutschke – keine Rolle. In einem ausführlichen Unterkapitel wirft Seitenbecher einen Blick auf die widersprüchlichen Haltungen der Neuen Linken zu Israel – von der Kritik des Nazi-Antisemitismus über die Selbststilisierung als Opfer des Faschismus, die die Vernichtung der Juden tendenziell verkleinerte, bis hin zu einem Antizionismus mit antisemitischen Untertönen.

Kapitel sechs beschreibt die 80er Jahre mit den neuen Bewegungsformen der Alternativ-, Ökologie- und Friedensbewegung. In der Friedensbewegung kamen nationalpazifistische Haltungen zum Ausdruck. Tilman Fischer trat in die SPD ein und wurde Leiter der Parteischule. Er blieb jedoch mit seinem deutschlandspolitischen Engagement einflusslos. Mahler näherte sich nach seiner Haftentlassung dem FDP-Milieu und erklärte mit Hegel den Staat zur Wurzel des menschlichen Seins. Er schien endlich im bürgerlichen Leben ›angekommen‹ zu sein und zog sich auf seinen Beruf als Anwalt zurück.

Kapitel sieben zeichnet dann für die Zeit seit den 90er Jahren die Annäherung einiger dieser Biographien an die Rechte nach. Fichter geriet durch seine Nähe zu den deutsch-nationalen Jusos des ›Hofgeismarer Kreises‹ zwar ins Gerede, blieb aber der Sozialdemokratie treu. Rabehl erregte 1998 Aufsehen durch eine Rede vor der Burschenschaft Danubia, in der er vor einer ›Überfremdung‹ Deutschlands warnte. Das ging in der Folgezeit einher mit persönlicher Verbitterung, Rundum-Verfeindung und Verschwörungstheorien. Er publizierte nun im Milieu der jungkonservativen Rechten und trat in Veranstaltungen der NPD auf. 2009 erklärte er sich sogar bereit, für NPD und DVU als Bundespräsidentschaftskandidat anzutreten, zeigte sich jedoch bald auch von dieser Verbindung enttäuscht. Mahler glitt über eine hegelianische Laudatio für den rechtskonservativen Philosophen Günter Rohrmoser 1997 und das Milieu der neu-rechten Zeitschriften Junge Freiheit, Sleipnir und Staatsbriefe mit einwandererfeindlichen Beiträgen weiter zur äußeren Rechten. Im Jahr 2000 wurde er Mitglied der NPD, verteidigte die Partei erfolgreich gegen einen Verbotsantrag und äußerte sich in der Folgezeit mehr und mehr judenfeindlich. Oberlercher geriet als Privatgelehrter und selbsterklärter ›Nationalmarxist‹ in die Isolierung und wandte sich ebenfalls der Ausländerthematik zu. Mit antisemitischen Äusserungen, einem Verfassungsentwurf für ein ›Viertes Reich‹, dem Aufruf zum ›Rassenkrieg‹ und anderen extremistischen Appellen isolierte er sich auch in rechten Kreisen, kandidierte jedoch 2005 für die NPD.

Seitenbecher schließt dieses Kapitel ab mit einer Übersicht über ideologische Muster zwischen den 68ern und den neuen Rechtsgewendeten. Er erörtert die Feindschaft gegen die parlamentarische Demokratie, Antikapitalismus, Antiamerikanismus und Antisemitismus sowie das Verhältnis zur Nazivergangenheit. Jenseits des Ideologischen gibt die ostdeutsche bzw. schlesische Herkunft von Mahler, Maschke, Oberlercher, Rabehl, Dutschke und Krahl zu weiteren Interpretationen Anlass: Hier suchten Menschen nach Identität. In einer Schlussbetrachtung unterstreicht der Verfasser die Heterogenität der Bewegung, wie sie aus den Biographien zutage tritt, sowie das problematische Verhältnis von Bruch und Kontinuität.

Zur Phänomenologie der Bewegung

Ein Sprichwort sagt, der Kopf sei rund, damit die Gedanken ihre Richtung wechseln könnten. So einfach und ›natürlich‹ waren die in dieser Dissertation beschriebenen Richtungswechsel jedoch keineswegs. Sie fanden nämlich nicht nur in einzelnen Köpfen statt, sondern betrafen auch soziale Zusammenhänge, darunter soziale und politische Bewegungen.

Was aber ist Bewegung? Die Bewegungsforschung wird bislang von einem engen Zugang beherrscht, dem es vor allem oder ausschließlich um Organisation und Ideen geht, insbesondere um Ideengeschichte und Ideologiekritik, um Vorstellungen, Ziele und Meinungen. Seitenbechers Studie ist davon nicht ganz frei, sie weist aber nicht zuletzt aufgrund ihres biographiegeschichtlichen Ansatzes über diese Begrenzungen hinaus.

Der Begriff der Bewegung ist sprachlich vieldeutig, und zwar in vielen (oder sämtlichen?) europäischen Sprachen. ›Bewegung‹, movement, le mouvement, movimento, bevægelse, rörelse etc. bezeichnen sowohl soziale als auch emotionale und körperliche Bewegungen. Diese Mehrschichtigkeit ist bedeutsam, wurde in der Forschung aber bisher kaum oder gar nicht zum Gegenstand gemacht. Besagt die Sprache mit ihrer anonymen Tiefe und Weisheit vielleicht etwas über einen Zusammenhang, den das akademische Denken normalerweise übersieht?

Menschen bewegen sich körperlich, und solche Bewegung gehört zu ihrem Leben. Diese Bewegungen können unwillkürlich sein wie Atmung und Ticks, sie können kulturell strukturiert werden als Gestikulation und Mimik, oder weiter ausgeformt als Spiel, Kampf, Tanz, Meditation, Sport, Freiluftaktivität oder Arbeitsbewegung.

Menschen werden von Stimmungen und Gefühlen bewegt. ›Ich bin bewegt‹, sagt man. Faszination, Begeisterung, Zorn, Angst, Schmerz und Gelächter gehören zu dieser Bewegungswelt.

Und Menschen nehmen teil an Vergesellschaftungen, die wir ebenfalls Bewegungen nennen. Soziale Bewegungen, politische, kulturelle und religiöse Bewegungen machen zusammen mit Freundesgruppen, Vereinen und Verbänden die Zivilgesellschaft aus.

Über jeden dieser Lebensbereiche gibt es spezialisierte Untersuchungen, aber diese blenden meist die eventuell vorhandenen Zusammenhänge aus. So kann man in Handbüchern über soziale Bewegungen viel über Organisationen und Ideen finden, kaum oder gar nichts jedoch über körperliche Praxisformen und Emotionen. Der biographische Zugang, den Seitenbecher gewählt hat, öffnet hier einen weiteren Blick, da in der Biographie soziale Bewegung, emotionale Bewegtheit und körperliche Bewegungsformen zusammenhängen.

Emotionale und körperliche Bewegung 1968

Zur emotionalen Bewegung zitiert Seitenbecher den SDS-Vorsitzenden von 1967. Reimut Reiche sagte damals über den universitären Streik, dessen konkreter Inhalt – 30 Pfennig Mensazuschuss – sei zwar marxistisch gesehen schwachsinnig, aber »er hält Emotionen wach, bringt Massen in Bewegung, genau wie Vietnam, der Notstand, der Ostermarsch« (121).

Zur emotionalen Bewegung gehörte das Gemeinschaftsgefühl, die Identität eines neuen Wir. Von ›We shall overcome‹ über den Sprechchor ›Bürger, wir stinken!‹ bis hin zu jenem ›Wir sind das Volk!‹, mit dem 1968 im Jahre 1989 einen Nachklang erfuhr. Zugleich vollzog sich in der Anredeform der Übergang vom ›Sie‹ zum ›du‹.

Der Ausdruck von Identität hatte in der Bewegung jedoch auch ein kontrastierendes Gegenüber: Wir sind die anderen. Das bezeichnete eine Abgrenzung gegen ›den Bürger›‹, aber zugleich mehr: Identität gegen Entfremdung. Rudi Dutschke bezeichnete die Dynamik des Aufruhrs als »existenziellen Ekel« vor einer Gesellschaft, die von Freiheit rede, die Menschen und Völker aber subtil und brutal unterdrücke (165).

Der Aufruhr konnte durchaus ironische Untertöne haben: ›Anarchie ist machbar, Herr Nachbar!‹ Aber es war auch oft ein unironischer Machbarkeitswahn im Spiel: Die Welt zu verändern erschien als ein Avantgarde-Projekt. ›Geschichte ist machbar‹. Che wurde dafür zitiert: »Die Pflicht eines Revolutionärs ist es, die Revolution zu machen« (123). Dieses Machen scheiterte bekanntlich. Mahler und Oberlercher jedoch hielten an der naiven Überheblichkeit fest, vom SDS bis hin zur NPD.

Bei alledem – Revolutionsstimmung, Wir-Gefühl, Du-Beziehung, Identität und Entfremdung, Machbarkeitsprojekt – handelt es sich gewiss um unhandgreifliche Dimensionen menschlichen Handelns. Sie werden allerdings von der Soziologie Schritt für Schritt entdeckt. Und in der Tat können sie für eine materialistische Geschichtsschreibung weit bedeutsamer sein als die Überbauphänomene, auf die sich die übliche Ideengeschichte bislang konzentriert hat. Die 68er Bewegung war insofern nicht zuletzt ein Phänomen von Stimmung, Atmosphäre, Energie – Aura. Als solches wartet sie noch auf weitere Untersuchung.

Ähnlich unterbelichtet ist die körperliche Bewegung, die zwischenmenschliche Praxis als Basis politischer Bewegung. Dazu gehört das Singen, insbesondere der Gemeinschaftsgesang. 1968 war charakterisiert durch die Singtreffs auf der Burg Waldeck und die Rezeption und Neuentwicklung des Folk, durch eine politische Rockmusik, rote Lieder und Protestsongs. Man mag all das verstehen als einen Bruch mit der ›skeptischen Generation‹, wie sie noch 1957 der Soziologe Schelsky konstatierte: nüchtern, ideologisch desillusioniert – und nicht singend.

Zu den Bewegungsformen gehörten der Ostermarsch, der einigen Historikern als erste neue soziale Bewegung gilt, und auf den sich Reiche 1967 berief. Demonstrationsmärsche griffen diese Art der (Fort-) Bewegung auf und dynamisierten sie mit Springprozessionen. Dabei kehrten Fahnen, die nach 1945 in Westdeutschland – auch in Abgrenzung zur DDR – verfemt worden waren, in neuem Zusammenhang wieder, ob rot, schwarz oder mit Sponti-Blümchen.

Happenings waren ein wichtiges Element der Bewegungspraxis – improvisierte Ereignisse, bei denen z.B. Gegenstände ins Publikum geworfen wurden. Happenings waren das Pudding-Attentat der Kommune I gegen den US-Vizepräsidenten Humphrey 1967 und die Oben-ohne-Aktion von Studentinnen gegen Adorno 1969. Experimentaltheater wie das Living Theatre und Straßentheater wandten eine Art von Situationismus an. Plakatgraphik und Wandmalereien entwickelten neue Formen zwischen Flower Power und Graffiti. Situationistische Verspieltheit fand sich bei den Subversiven als ein Traum vom »homo ludens« im Kontrast zum Konsumbürger (44). Aus Kalifornien kamen mit der Hippiekultur die New Games, alternative Sportvereine wurden gegründet, und eine gegen das Leistungsprinzip gerichtete Sportkritik verbreitete sich. Dass all dieses nicht einfach ›machbar‹ war, zeigte sich, als Mahler 1999 mit seiner ›Bürgerbewegung für Unser Land‹ zu Montagsdemonstrationen aufrief und nur mit Mühe eine Handvoll Menschen sammeln konnte. Und von Verspieltheit konnte nun jedenfalls nicht mehr die Rede sein.

Soziale, psychische und körperliche Bewegung bildeten in der 68er Bewegung eine Ganzheit. Dieses Ganze war durchaus widersprüchlich, aber machte eben doch ein Zusammenhang aus. Es war der Zusammenhang einer Erweckungsbewegung.

Seitenbechers Studie geht auf die emotionalen und körperlichen Aspekte der Bewegtheit nicht im einzelnen ein. Aber er öffnet über den biographischen Zugang den Blick darauf. Denn Biographien handeln nicht von Ideen, die sich sekundär über ›Individuen‹ ausdrücken, sondern von lebenden Menschen in Bewegung.

Die hier bearbeiteten Biographien zeigen, wie die 68er Bewegung durchaus verschiedene Habitus anzog oder hervorbrachte: Infragesteller, Querdenker und Besserwisser. Über letzteren schrieb Erich Fried in der RAF-Zeit: »Du hast ganz und gar recht … Nur ein Mensch, der ganz und gar recht hat, macht mir immer ein wenig Angst. Und glaubtest du nicht schon früher, als du ganz und gar unrecht hattest, du habest ganz und gar recht?« Seitenbecher nennt das eine »ideale lyrische Biographie Mahlers« (259).

Dennoch gibt die Studie nicht der Versuchung nach, so etwas wie einen extremistischen Charakter mit sozialpathologischen Zügen zu rekonstruieren. Gerade im Falle Mahlers würde man sonst auf das Paradox jenes Mahler stoßen, der in den 80er Jahren vorübergehend der FDP nahe stand. Sind Liberale extremistisch – und warum eigentlich nicht?

Vielmehr trägt die Studie zur Phänomenologie einer Bewegung bei, deren Fundamentalkritik sich gegen erlebte Entfremdung richtete. In der Erweckungsbewegung kam ein gesellschaftlicher Zorn zum Ausdruck, den man im Zusammenhang mit Peter Sloterdijks Zorn und Zeit (2006) verstehen kann. Anders leben, darum ging es. Aber warum gerade in den 60er Jahren? Und ist das Thema inzwischen etwa obsolet geworden? (Doch wohl kaum.) Eine Antwort darauf sollte man hier nicht erwarten. Seitenbecher ist kein Besserwisser. Er regt eher zu weiterer Suche an, und diese führt in einen Zwischenraum zwischen der Politik (wir machen das!) und der Kultur (es geschieht mit uns).

Zur differentiellen Phänomenologie des Nationalismus

Eine ähnliche Nachdenklichkeit stiftet die Studie in Bezug auf die nationale Frage. Die Dissertation ist ja darauf ausgerichtet, die These der drei neo-rechtsradikalen Ex-68er zu überprüfen, wonach 1968 im Kern eine nationalistische Bewegung gewesen sei. Aber Nationalismus ist nicht nur einer. Er ist, wie Seitenbecher verschiedentlich andeutet, ein differentielles Phänomen. Diese Phänomenologie kann man weiterdenken.

Es lassen sich dabei wohl mindestens drei unterschiedliche Typen unterscheiden. Da ist der Befreiungsnationalismus, wie er typisch durch die antikolonialen Befreiungsbewegungen in Afrika, Asien und Lateinamerika, aber auch in Irland, Grönland und im Linkszionismus repräsentiert wurde. Der Bewegungsnationalismus war überwiegend links. In der leninistischen Tradition sprach man von der ›nationalen antikolonialen Frage‹. Die Befreiung richtete sich gegen den Feind ›draußen‹, typisch die koloniale Besatzungsmacht. Der irische Sozialistenführer James Connolly repräsentierte diese Haltung, später dann der Trikont-Nationalismus der Sandinisten, Gaddafis, Mandelas und des Vietkong. Der gedachte Akteur war hier das Volk als eine aufrührerische Bewegung.

Ganz anders verfährt der Bedrohungsnationalismus, typisch repräsentiert durch die fremdenfeindlichen rechts-populistischen Bewegungen unserer Tage. Früher richtete der Bedrohungsnationalismus sich oft gegen ›den Juden‹, heute gegen den Islam. Hier sah und sieht man den Feind also im Inneren, zum Beispiel in Gestalt ethnischer Minderheiten. Ein durchgehendes Feindbild sind dabei außerdem die Linken, insofern als sie die Bedrohung angeblich begünstigen. Im faschistischen Antibolschewismus dienten die Linken ›dem Juden‹, in der Zeit des Kalten Kriegs ›dem Russen‹. Bezugsgröße des Bedrohungsnationalismus war einerseits in der Zeit des Kalten Kriegs die ›Freie Welt‹, sonst aber meist das ›biologische‹ Volk, das in seiner Substanz durch die ›Fremden‹ bedroht werde.

Eine ältere Tradition hat der Staatsnationalismus. Ihn kultivierten verschiedene Regime der Moderne. Das reichte von den faschistischen Staaten (Mussolinis Nationalfaschismus, Francos Staatsfalangismus) über demokratische (das jakobinische Frankreich, das imperialistische England, die paranoiden USA unter George W. Bush) bis hin zu kommunistischen Staaten (Albanien, Nordkorea, VR China). Hier mobilisierte man gegen den Feind drinnen und draußen und nannte dies typischerweise ›Patriotismus‹. In Russland ging eine vaterländische Linie von Stalin zu Putin. In Deutschland hat der Staatsnationalismus eine rechte Hegemonie und bezog sich auf Preußen und Hegel, auf Bismarck und Hindenburg. Aber paradoxerweise trug auch die DDR staatsnationalistische Züge. Und Habermas war mit seiner Idee vom ›Verfassungspatriotismus‹ nicht gar so weit davon entfernt. Neuerdings erscheint Europa als Superstaat und Großnation, die sich dem Globalisierungsdiskurs zufolge im Wettbewerb mit USA, Russland und China befinde. Bezugsgröße dieses Nationalismus ist stets der Staat mit seiner Bevölkerung, wie sie von oben, von den Institutionen her definiert wird – das Staatsvolk.

Wie verhielt sich die 68er Bewegung zu diesen unterschiedlichen Nationalismen? 1968 als eine deutsche Bewegung stellte einen bemerkenswerten Sonderfall dar. Das Nationalismusverständnis in Deutschland war durch die NS-Erfahrung staatsnationalistisch geprägt, gerade auch in der jungen Generation. In diesem Sinne konnte die 68er Bewegung nur antinationalistisch und antipatriotisch sein. Vaterland war ein Un-Begriff geworden und irgendwo zwischen CSU und Deutscher National-Zeitung angesiedelt. Aber auf die Dauer ist dieser Typus durchaus nicht anachronistisch: Der Konkurrenzstaat unter den Bedingungen der Globalisierung und der globalen Konkurrenz lässt neue Staatsnationalismen am Horizont erscheinen.

Heute treten rechtsnationalistische Strömungen jedoch in erster Linie mit fremdenfeindlichen Programmen an. Auch mit solchem Bedrohungsnationalismus hatte 1968 nichts zu tun. Die Bedrohungsstimmung unter rechten ›Nationalen‹ richtete sich damals – im Kalten Krieg und insbesondere nach dem Mauerbau – in erster Linie gegen ›die Kommunisten‹. Das prägte den Konflikt zwischen der antikommunistischen Rechten und der anti-antikommunistischen 68er Bewegung. Die Einwanderungsfrage stand nicht auf der Tagesordnung. Und sie war auch noch weit entfernt, als französische 68er in Solidarität mit Daniel Cohn-Bendit skandierten: ›Nous sommes tous des juifs allemands!‹ (Wir sind alle deutsche Juden!). In dieser Beziehung argumentieren Mahler, Oberlercher und Rabehl anachronistisch, wenn sie versuchen, 1968 für die ›Überfremdungs‹-Sache mit ihren antisemitischen, antiislamischen oder einwandererfeindlichen Bezügen zu vereinnahmen.

Andererseits aber erhielt die 68er Bewegung ihren besonderen Antrieb aus dem Protest gegen den amerikanischen Vietnamkrieg. Daraus ergaben sich antiamerikanische Untertöne. Darüber hinaus suchte die Bewegung sich ihre positiven Bezüge bei den antikolonialen und befreiungsnationalistischen Bewegungen – in Südafrika, Lateinamerika, Palästina, bei der Black Power-Bewegung und dem American Indian Movement in den USA, dann auch in Irland und im Baskenland. Wenn man mit Che sagte: ›Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker‹, ging es durchaus um Völker, aber eben um Völker in aufrührerischer Bewegung. Von diesem Bezug her und unter den Bedingungen der amerikanischen und sowjetischen Besetzung und Spaltung Deutschlands kann man im Aufruhr von 1968 in der Tat befreiungsnationalistische und insofern nationalrevolutionäre Dimensionen erkennen. Allerdings waren die 68er sich, aus verständlichen Gründen, dieser nationalen Komponente nicht bewusst. Und gerade Mahler, Maschke, Oberlercher und andere spätere Rechtswender hatten seinerzeit davon keine Ahnung.

Insofern ist die Einschätzung der Beziehung zwischen 1968 und ›nationaler Frage‹ komplex. Und in diesem Sinne trägt Seitenbechers Studie dazu bei, den deutschen Sonderweg noch einmal neu zu durchdenken.

Die Dissertation ist also mehr als nur fleißig und mehr als nur ›nuanciert‹, wie verschiedene Rezensenten bemerkt haben. Sie führt weg von einem simplen Erklären und hin zu einem komplexen Verstehen. »Mir scheint, die Kinder des nächsten Jahrhunderts werden das Jahr 1968 mal so kennen wie wir das Jahr 1848«, schrieb Hannah Ahrendt 1968 (431). Seitenbechers Dissertation stützt diese Voraussage und weist zugleich Wege zu neuer Erkenntnis über die Bewegung.

Aber es gibt keinen Grund zu Illusionen: Der Etikettenstreit wird weitergehen. Das zeigen auch manche der Rezensionen zu Seitenbechers Studie. Der reißerische – vielleicht allzu reißerische? – Titel des Buchs mag dazu beitragen. Jedenfalls folgten so manche Rezensenten brav den alten Mustern: 1968 – rechts oder links? Extremistisch oder gut demokratisch? Nationalistisch oder internationalistisch? Wenn man so nach Etiketten fragt, braucht man sich über die Bewegungen in der Demokratie und über die nationale Frage keine weiteren Gedanken zu machen.