Fiktive Avantgarden
Yvan Goll und die ästhetische Moderne

Kein Zeugnis kann es mit den Texten selbst aufnehmen. Was man über einen Dichter sagt, ist entstellt [...]. Die gelehrte Plage ist unvermeidlich. Sie geißelt die Poesie, die dennoch ihren Weg geht, unangetastet.
L.Cardoza y Aragon

Yvan Goll (YG), der deutsch- und französischsprachige Dichter, nach Pinthus »durch Schicksal Jude, durch Zufall in Frankreich geboren, durch ein Stempelpapier als Deutscher bezeichnet«, ist sowohl in Frankreich wie auch in Deutschland wenig wahrgenommen worden, und wenn, dann meist einseitig. Die Hauptgründe liegen in einem im Sinne des Wortes schwer zugänglichen Werk mit Sprach- und Editionsproblemen. Erst in letzter Zeit, nach Vorliegen der Nachlässe des Dichters sowie von Claire Goll (CG) zeichnet sich eine neue Beschäftigung mit den Werken und theoretischen Reflexionen dieses wichtigen Autor der europäischen Avantgarde ab. Bis heute, sechzig Jahre nach seinem Tod, fehlt eine textkritische Gesamtausgabe, die für weitere Studien unabdingbar erscheint.

Die in beiden Ländern nicht genügende und vor allem nicht adäquate Wahrnehmung eines im Französischen wie im Deutschen gleich beheimateten Dichters spiegelt sich auch in dessen Präsenz (oder besser Nicht-Präsenz) in Sammelwerken wider. Um nur wenige Beispiele aus dem deutschen Sprachraum zu nennen: In der Lyrik des Abendlandes ist Goll gar nicht vertreten, obschon im Nachwort (Hohoff) als ausdrückliches Anliegen der Sammlung »das Nebeneinander, Überkreuzen und Überholen des gemeinabendländischen Sinnesspiegels« genannt wird; ebenso fehlt er im Museum der modernen Poesie, in Deutsche Lyrik. Gedichte seit 1945 (Bingel 1978) und in den Expeditionen deutscher Lyrik 1945 (Weyrauch 1959). Das surrealistische Gedicht (Becker et al 1986) erwähnt nicht einmal seinen Namen. Auf der anderen Seite verfahren Anthologien wie Deutsche Gedichte (Bode 1984) und Deutsche Lyrik vom Barock bis zur Gegenwart (Hay et al.1986) selektiv, indem sie nur frühe Gedichte aufnehmen. Lediglich im Band Das große deutsche Gedichtbuch (Conrady 1972) wird der Versuch einer repräsentativen Auswahl vorgenommen.

Nicht nur in Gedichtsammlungen sucht man Goll oft vergeblich. Zur Geschichte der deutschen Lyrik seit 1945 gehört er offensichtlich nicht, glaubt man dem 1989 erschienenen Band. Im Lexikon des Surrealismus findet man seinen Namen weder unter »Goll« noch unter »Surrealistische Zeitschriften«, nicht einmal unter »Manifeste des Surrealismus«. Selbst dort aber, wo es zu einer Erwähnung kommt, geschieht dies auf eine Weise, die der Bedeutung dieses Dichters nicht gerecht wird. So liest man bei Schneede: »Eine kleine Gruppe um den Dichter Yvan Goll erhebt – unter Berufung auf Apollinaire – ebenfalls Anspruch auf den Begriff Surrealismus. Goll bringt Ende Oktober [1924, Anm. d. Verf.] eine Zeitschrift ›Surrealisme‹ heraus, die jedoch eine Eintagsfliege bleibt.« Darüber hinaus ist Goll nicht erwähnt in einem Buch von 257 Seiten, welches durch seinen Titel zu verstehen gibt, dass es den gesamten Surrealismus erfassen will. Auch in einem Aufsatz mit dem Titel Der Surrealismus und die späten Pariser Ismen findet sich YG nicht.

Für die beschriebene Wahrnehmungseinschränkung gibt es vielschichtige Gründe, da beim Werk YGs tatsächlich besondere Probleme zu konstatieren sind:

Probleme der Lesbarkeit

Da Zweisprachigkeit nur bei einer Minderheit der Leser vorliegt und Übersetzungen oft erst Jahre nach dem Erscheinen in der jeweiligen Originalsprache vorgenommen wurden, war das Werk für einen breiten Leserkreis nicht verfügbar. Eine Parallele im französischen Sprachraum ist der andere Elsässer, René Schickele, dessen Werk bis heute nicht ins Französische übersetzt ist. Hier liegt auch eine der Ursachen dafür – Goll schrieb bis etwa 1925 seine Gedichte in deutscher Sprache –, dass er meist als deutscher »Expressionist« und französischer »Surrealist« wahrgenommen wurde. Beides ist problematisch, letzteres aber besonders dadurch, dass die ihn so Einordnenden meist von einem anderen Surrealismusbegriff ausgehen, dem öffentlichkeitswirksamen Surrealismus der Gruppe Bretons, während YG selbst immer wieder zeigte, dass er unter diesem Begriff etwas anderes verstand.

Probleme der Verfügbarkeit

Dieses Problem stellt sich doppelt dar: einmal in Bezug auf die Verfügbarkeit der Texte an sich, dann in Bezug auf autorisierte Texte. Erst seit dem Tode von CG 1977 gibt es Zugang zu den Nachlässen beider Dichter, die sich nach dem Willen von Golls Witwe in St. Dié und Marbach befinden, wobei es sich letztlich aber auch hier wieder nur um einen Teil des Nachlasses handelt; denn obwohl dieser »europäische« Teil sicher der größte ist, darf doch nicht vergessen werden, dass auch aus der Zeit im amerikanischen Exil ein solcher existieren muss, über den es aber noch gar keine systematische Untersuchung gibt; vor allem über die Geschichte der in englischer Sprache verfassten Gedichte liegt kaum etwas vor. Bei allen früheren Ausgaben ist ferner die Frage der Authentizität nach wie vor offen. In den Nachlässen finden sich mehrfach veränderte handschriftliche Versionen der gleichen Texte sowohl von CG wie auch von YG, Typoskripte ohne Datierung und Seitenzahl. Nur eine textkritische Gesamtausgabe könnte hier Klarheit schaffen. Wissenschaftliche Beschäftigung war aber von Anfang an schwierig schon wegen des Fehlens einer kompletten und verlässlichen Bibliographie. Erst 2003 wurde eine solche, nach dem Stand dieses Jahres vollständige, von Kramer/Villain vorgelegt. Die Herausgeber beschreiben im Vorwort die erheblichen Schwierigkeiten bei den Recherchen ausführlich, insbesondere wird ausgeführt, wie kompliziert schon die Personalbibliographie war, da YG viele verschiedene Pseudonyme benutzte, z.B. Iwan Lazang, Iwan Lassang, Tristan Torsi, Johannes Thor, Tristan Thor, Jean Longeville, Jean de Saint. Dazu kommt, dass er sein Werk ständig veränderte. »He reorganized, rewrote, anthologized and republished the same and different versions of poetry«. ( Kramer/Villain) Ein weiterer Punkt ist das Publizieren in verschiedenen Ländern, nicht nur in Deutschland, Frankreich und USA, sondern auch in Südamerika, Afrika und Asien, wobei die Veröffentlichungen oft in lokalen Zeitungen und Zeitschriften stattfanden. Darüber hinaus ist ein Teil des Werks verloren. Das Handschriftenarchiv des DLA Marbach informiert seine Besucher dahingehend, dass dieser Teil wohl endgültig zerstört ist. CG spricht von Plünderung der Wohnung in Paris, wobei Briefe und Manuskripte gestohlen worden seien. Allerdings ist die endgültige Untersuchung z.B. von Funden in einem Archiv in Moskau wohl auch heute noch nicht abgeschlossen. (Glauert 2002)

Probleme der Textverfälschung

Dieses Problem ist besonders vielschichtig, hat es doch nachweislich gemeinsame Dichtungen von CG und YG gegeben, auch haben beide Autoren gegenseitig ihre Texte korrigiert und übersetzt. Bei Korrekturen nach YGs Tod muss aber von eigenmächtigem Handeln Claires ausgegangen werden, womit die entsprechenden Texte wiederum nicht als autorisiert gelten können. CG hat nicht nur Daten geändert und Auswahlen in ihrem Sinne vorgenommen, sondern sogar Gedichte umgeschrieben, so dass oft nicht zu entscheiden ist, welcher der Originaltext von YG ist und wann er geschrieben wurde. Ein gut dokumentiertes Beispiel findet sich in der Ausgabe Gedichte des Magica-Verlags 1968, wo die grundsätzliche Veränderung des Gedichts Kreuzigung durch Einfügen persönlicher Elemente (»Geliebte«) nachgezeichnet wird. CG war außerdem »äußerst großzügig bei der Abfassung von Gedichttiteln, während YG nur etwa ein Drittel seiner Gedichte mit Titeln versah«, wie Glauert schreibt. Dazu kommt das Problem, dass er auch gleichzeitig auf Französisch und Deutsch Gedichte schrieb, die dann von ihm selbst oder von CG übersetzt wurden. So ist oft schwierig festzustellen, welches das Original und welches die Übersetzung ist und vom wem sie stammt, »bibliographers’ and editors’ nightmare«. (Kramer-Vilain) Als weitere Schwierigkeit ist zu nennen, dass sich YGs an sich gut lesbare Handschrift ab etwa 1945 grundlegend veränderte. Die in der Handschriftenabteilung des DLA Marbach einsehbaren Texte aus seinen letzten Lebenswochen, beschriftete Zettel, Zeitungsausrisse und Briefumschläge, können nur sehr schwer entziffert werden.

Probleme der »Verniemandung«

Als »Verniemandung« hatte Hilde Domin 1973 mit einem Wort von Octavio Paz das bezeichnet, was sich abspielte im Rahmen der sogenannten »Goll-Affäre«, die man korrekter »Claire Goll – Paul Celan-Affäre« nennen sollte. »Yvan Goll ist bei uns nahezu verboten, ein Kapitel der literarischen Meinungsbildung, wo Manipulation konkret nachzuweisen ist. […] Sein Name ist in der Apparatur nicht eingefüttert«. Ihr Appell wolle Celan nichts nehmen, »uns aber einen Lyriker zurückgeben, dessen Stimme erstickt wurde. Man schweige einen »der stärksten Dichter deutscher Sprache« einfach tot, schreibt sie, in Kindlers Literaturgeschichte der Gegenwart sei er nicht vertreten. Die neue Generation solle endlich entscheiden, ob er nicht jetzt, da alle Beteiligten tot seien, »bei uns eine Bleibe haben dürfe«. Auch diese sich über Jahre hinziehende Diskussion hat eine adäquate Rezeption des Werks von YG verhindert.

Es gibt allerdings noch eine andere, frühere »Verniemandung« YGs, des Dichters und Theoretikers, des Surrealisten, die damit zusammenhängt, dass er sich nicht in die Gruppe von A. Breton integrierte und deshalb totgeschwiegen wurde. Alain Bosquet kommt in einem Brief an YG vom 27.9.49 aus Berlin auf Anthologien zu sprechen, die über den Surrealismus herausgegeben wurden. Er schreibt, diese würden nur jene anführen, die »partie du mouvement« gewesen seien, wie Breton, Eluard, Char und Soupault. Diejenigen, die aus Gründen der »Objektivität« nicht dabei waren und nur »unter streng wissenschaftlichen Gesichtspunkten« gearbeitet hätten wie Ponge, Perse und Goll, »die der Surrealismus beeinflusste und die ihn beeinflussten«, seien ausgeschlossen.

Probleme der Verschleierung

Die Bemühungen von CG, das Werk YGs zu erhalten, können und sollen nicht geschmälert werden; allerdings war sie auch bemüht, es in ihrem Sinne herauszugeben und den Mythos des einzigartigen Liebes-Dichterpaares, zum großen Teil ihre eigene Schöpfung, zu verewigen. Beides hat zu einer mehrschichtigen Verschleierung beigetragen, wobei die Schleier nur unter großen Schwierigkeiten zu heben sind. Zum Werk YGs schreibt Glauert schon 1971, dass es selbst für Kenner schwer sei, Claires Anteil zu definieren. Akribische Forschungsarbeit wird nötig sein, um zu untersuchen, welche der von CG in die Welt gesetzten Bilder einfach immer weiter unkritisch übernommen wurden, angefangen von ihrer ersten Veröffentlichung über YG in der »Aktion« 1918 («Sein Thema ist immer die Liebe«) bis zu den späten Schilderungen aus dem Krankenhaus (»Denn neben dem schweren physischen Kampf […] kämpfte seine Seele den viel schwereren des Abschieds von der Gefährtin, die er unbeschützt zurücklassen musste«).

Probleme der Einordnung

Nicht nur dass YG in verschiedenen Sprachen und in allen Gattungen geschrieben und sowohl Lyrik wie Drama, Romane wie theoretische Schriften hinterlassen hat, ganz zu schweigen von seiner sehr frühen Beschäftigung mit dem Film und der Zusammenarbeit mit Komponisten, auch die Tatsache, dass es für einen »europäischen« Dichter immer noch keinen geeigneten »Rezeptionsort« gibt, führt zu Problemen in der Aufnahme und Bewertung dieses Autors. Die Zweiteilung der Rezeption in Deutschland als deutscher Dichter, in Frankreich als französischer, entspricht nicht YGs Selbstbild, denn er selbst sah sich als europäischen Dichter an. »Ich schreibe auf deutsch und auf französisch, gehöre aber nur Europa«, schreibt er in einem Brief an Majakowskij. Der »Mann zwischen zwei Stühlen«, wie er sich selbst bezeichnete, begriff diesen seinen Standpunkt jedenfalls immer als Chance und nicht als Mangel. Rechnet man das Jüdische und das Spezielle des Elsässers hinzu, so ergeben sich noch mehr Facetten. YG war deutscher und französischer Dichter schon in dem Sinne, dass er beide Sprachen als »Muttersprache« beherrschte. Er sprach Französisch im Elternhaus und Deutsch in der Schule. Er kannte die Problematik des Übersetzens sehr gut, schrieb ein Gedicht in einer Sprache, um es dann selbst in die andere zu übertragen, aber was entstand, war ein anderes Gedicht, wie er sagte. Diese Sensibilität in Bezug auf die Übertragbarkeit von einer Sprache in die andere ist sicher auch ein Grund für sein Interesse am Übersetzen von Stoffen und Inhalten von einem ästhetischen Medium ins andere. So war er nicht nur einer der ersten, der die Möglichkeiten des Films erkannte, was sich in seiner Zusammenarbeit mit dem Filmexperimentator Viking Engeling zeigt, er arbeitete auch mit dem Komponisten Kurt Weill zusammen; die engen Kontakte mit den bekanntesten bildenden Künstlern der Zeit, von denen viele seine Bücher illustrierten, erhöhten diese Sensibilität noch. Dazu kam seine spezifische Internationalität. Im Elsass geboren, hatte er die deutsche Staatsangehörigkeit 1910 durch »Naturalisierung« erhalten und war, um sich dem Militärdienst als überzeugter Pazifist (der zudem nicht als jetzt Deutscher ausgerechnet gegen die Franzosen kämpfen wollte) zu entziehen, zunächst in die Schweiz gegangen, dann nach Paris und Berlin. Schon durch seine spezielle Biographie kam er also in verschiedenen Zentren der Avantgarde Europas in Kontakt mit allen jeweils zeitgenössischen Strömungen. Themen wie Interkulturalität, das Kosmopolitische, das Stehen zwischen den verschiedenen Künsten, alles Dinge, die die Avantgarde forderte, verkörperte er gleichsam schon in seiner Person. Pleiner stellt zu Recht fest, dass gerade dieser wechselseitige Zusammenhang lange Zeit verstellt wurde durch die einseitige Betrachtung von den Deutschen als Expressionist und von den Franzosen als Surrealist.. YG muss als europäischer Dichter bezeichnet werden, jeder Versuch seiner Vereinnahmung als »nationaler« Autor geht an dieser Künstlerpersönlichkeit vorbei. YG war ein Grenzgänger, zwischen Ländern und Sprachen ebenso wie zwischen literarischen Gattungen und künstlerischen Ausdrucksformen, aber auch zwischen gesellschaftlichem Engagement und ästhetischer Zurückgezogenheit. Dass er seine vielschichtigen Kenntnisse und Erfahrungen nicht nur intensiv reflektiert und in sein eigenes Schaffen integriert, sondern dass er sie »geradezu als programmatische und poetologische Herausforderung für moderne Dichtung versteht«, ist von Schmidt (1999) am Beispiel seiner Interkulturalität gezeigt worden.

Europäische Avantgarde und »Ismen«

»Moderne« und »Avantgarde« sind zwei Begriffe der Literaturwissenschaft, die, weit oder eng gefasst, in jedem Falle umstritten sind. Da außerdem der Terminus »Avantgarde« oft allgemein benutzt wird im Sinne einer Bezeichnung für geistige und kreative Elite, sind zunächst einige Anmerkungen zur Begrifflichkeit nötig. Sieht man ab von der »Moderne« als reinem Epochenbegriff, kann man zunächst den großen Rahmen von politisch-sozialer und ästhetisch-literarischer Moderne differenzieren, dann Letztere weiterdefinieren, zum Beispiel als die Epoche der Autonomie von Kunst. Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, dass die »Moderne« keine Einheit darstellt und nicht durch eine Summe von Merkmalen zu erfassen ist. Ein pluraler Modernebegriff ist daher mit Recht postuliert worden, Wolfgang Welsch spricht von »Ästhetischen Modernen«.

In Bezug auf die »Avantgarde« gibt es in ähnlicher Weise keine Einheitlichkeit. Auch hier sollte man von »Avantgarden« sprechen. Das Wort stammt aus dem Französischen, ist zusammengesetzt aus »avant« (vor) und »garde« (Wache). Ursprünglich im militärischen Bereich benutzt, bezeichnete es die in Frankreich schon im Mittelalter bekannte »Vorhut«, eine kleine Einheit, die an der Spitze des Heeres marschiert. Der Begriff war also zunächst rein räumlich definiert. Als es später zu einer Übertragung vom miltärischen Kontext auf den Diskurs im Umfeld von Musik, Literatur und bildenden Künsten kommt, findet eine Bedeutungsverschiebung statt, »Avantgarde« bezieht sich nunmehr auf die Zeit. Bedenkt man, dass Avantgardekunst immer etwa 20 Jahre brauchte, um selbstverständlich in Museen gezeigt zu werden, wird deutlich, wie weit sie ihrer Zeit voraus ist. Sie ist aber nicht nur schneller in ihrem Vorausgehen als die bestehenden Positionen, sie sieht auch auf diese zurück und hält sie für zerstörungswürdig, ist insofern Vertreter eines kulturrevolutionären Programms. So strebt die künstlerische Avantgarde unter Umständen nicht nur eine Verschmelzung mit politischen (revolutionären) Bewegungen an, sondern sieht sich geradezu als deren Vorhut. Diese Gedanken wurden besonders im Surrealismus Bretons wirksam. Sie sind aber nicht neu, wurde doch schon 1825 der militärische Begriff durch die Saint-Simonisten im Zusammenhang mit Kunst verwendet. Das Konzept hatte seinen Höhepunkt während der Revolution 1848 mit der Gleichsetzung von politischem und künstlerischem Fortschritt erreicht; es sah die Künstler, die sich an Emotion und Imagination der Menschen richten und diese dadurch beeinflussen können, als Führer der Gesellschaft an. (Grimm–Jost 1980)

Zur Avantgarde gehören also zunächst alle künstlerischen Gruppierungen, die sich gegen die bisher herrschenden Verhältnisse richten. Da es dabei immer um Orientierung am Neuen, Durchbrechen des Alten, Bruch mit der Tradition geht, welche teilweise abgelehnt, teilweise karikiert wird, kommt es immer auch zu Gegenreaktionen; die Allgemeinheit lehnt derartige Versuche ab – so wurden z.B. R. Huelsenbeck und H. Ball nicht nur ausgebuht, sondern mit Unrat beworfen – wobei von Seiten der Avantgarden aber diese Art Effekt oft beabsichtigt ist. Avantgardistische Bewegungen entstehen vorzugsweise in Zeiten, wo geistige Positionen ganz neu bedacht werden müssen. Eine solche Zeit der Umwertung aller Werte war die des Ersten Weltkriegs, der mit den ersten Materialschlachten, dem Kampf gegen Zivilbevölkerung sowie der Massenvernichtung einen der tiefsten Einschnitte bedeutete.

Peter Bürger definiert 1974 als »historische Avantgarde« ein »Ensemble von Gruppenbewegungen und Ismen, deren erste sich mit dem Futurismus in Italien konstituiert«; Gründungsdokument wäre dann das erste futuristische Manifest. Konstituierende Merkmale für diese historische Avantgarde sind: Internationalität, Gruppen- und Bewegungscharakter, Negation der Autonomie von Kunst, Überführung von Kunst ins Leben und Auflösung des Werkbegriffs. Besonders am letzten Punkt wird deutlich, dass die so definierten Avantgarden einen Bruch in der »Moderne« bedeuten, blieb doch für diese die Kategorie des »Werks« weiterhin unangetastet. Konsequenterweise wird an diesem Merkmal oft festgemacht, ob eine Strömung zu den Avantgardebewegungen gezählt wird oder nicht. Einigkeit darüber herrscht aber keinesfalls. Bürger selbst rechnet z.B.den Kubismus dazu, weil er das seit der Renaissance geltende Prinzip der Zentralperspektive erstmals antastete, obschon gerade der Kubismus nicht eine der Grundtendenzen der Avantgarde verfolgte, nämlich die Überführung der Kunst in Lebenspraxis. Der Expressionismus dagegen sei nur mit Einschränkungen Avantgarde, der Dadaismus die radikalste avantgardistische Bewegung. Andere Autoren rechnen nicht nur Futurismus, Kubismus, Expressionismus, Dadaismus und Surrealismus dazu, sondern auch Imaginismus und Konstruktivismus. Auch über die Zeiträume herrschen verschiedene Ansichten. Fähnders will einen engeren Avantgardebegriff auf die Zeit zwischen dem futuristischen Aufbruch 1909 und dem Zweiten Weltkrieg beschränkt wissen im Gegensatz zu einem weiteren, ins 19. Jahrhundert zurückgreifenden, wie in der angloamerikanischen Forschung zugrundegelegt. Auch er meint aber, dass sich gerade aufgrund der Vielzahl und Disparatheit der Ismen Peter Bürgers Zugriff auf der Metaebene bewährt habe, bei dem die historische Avantgarde durch ihren Angriff auf den Autonomiestatus der Kunst und des Werks bestimmt wird, genau diesen Status, den die klassische Moderne (Döblin, Kafka, Musil, Th. Mann, Joyce) nicht angetastet habe. Tatsächlich haben die Avantgarden sich nicht darauf beschränkt, die »Institution Kunst« anzugreifen, sondern haben sich vor allem mit zwei Fragen beschäftigt: der nach der Definition von Kunst und der nach ihren Grenzen. So ging es bei den Ready Mades von Duchamp um nichts weniger als die Frage, was Kunst überhaupt sei. Viel später, in den Achtziger Jahren, formulierte A. Danto seine These vom »Ende der Kunst«, wobei es aber nicht um das Ende der Kunst als solcher ging, sondern darum, dass Fortschritt in der zeitgenössischen Kunst nicht mehr möglich sei. Die Thematik ist nicht neu. Schon Hegel hatte vom Ende der Kunst gesprochen und Heines Widerspruch herausgefordert, dass nicht die Kunst, sondern nur die Kunstperiode zu Ende sei. Dies kann vielleicht mit einem anderen Charakteristikum der Avantgarden, ihrer Kurzlebigkeit, zusammengebracht werden. Per definitionem kann ja Neues nicht auf Dauer neu bleiben, durch den ständigen Zwang zur Neuerung gerät jede Bewegung an ihre Grenzen. Seit dem Ende der Sechziger Jahre gab es praktisch nur noch die Diskussion, ob Kunst durch neue Konzepte vorangehen könne. Seit der Postmoderne fehlt dazu noch der »Feind«, die Verbindlichkeit einer Stilrichtung oder einer gesamten ästhetischen Orientierung, gegen die man sich als neue Avantgarde überhaupt noch absetzen kann.

Die »historische Avantgarde« zielte nach Bürger also ab auf eine grundsätzliche Erneuerung der Kunst selbst sowie der Beziehung von Kunst und Leben. Alle Avantgardebewegungen protestierten gegen den (letztlich auf Nietzsche zurückgehenden) reinen Ästhetizismus, der Verneinung der Existenz oder zumindest Wichtigkeit von jedem Phänomen außerhalb des künstlerischen Selbst bedeutete, der die Kunst von der Lebenswirklichkeit entfernt und zu einem Verlust des Bezugs zur sozialen Wirklichkeit geführt hatte, zur Flucht aus dem Alltag. So musste Kunst für das Leben bedeutungslos bleiben, konnte jedenfalls in ihrem Elfenbeinturm nicht die Gesellschaft erneuern. Das Leben selbst hatte nur noch Sinn durch die Kunst. Die Avantgarden setzten folgerichtig genau hier ein, allerdings gingen sie verschiedene Wege und benutzten verschiedene Möglichkeiten: Annäherung an sozialistische Positionen wie auch schon bei Victor Hugo in der französischen Romantik oder bei Zola im Naturalismus oder direkte Hinwendung zur Politik (Futuristen), Tendieren in die Richtung von anti-demokratischem, antiliberalem, antibürgerlichem Aristokratismus (wie stellenweise bei S. Dali oder G. Benn), oder Versuch, direkt ins Leben einzudringen (Dadaisten).

Ein weiteres Charakteristikum der Avantgarden war ihre Internationalität. Zwar hatte es schon im 19. Jahrhundert Bewegungen wie Romantik, Naturalismus, Impressionismus und Symbolismus in mehreren Ländern Europas gegeben, im 20. Jahrhundert strahlte der Futurismus von Italien über ganz Europa und Russland aus; Dadaismus gab es nicht nur in der Schweiz und in Deutschland, vielmehr kam es schon 1917 in New York zu Dadamanifestationen, auch der Surrealismus war eine internationale Bewegung. Nicht nur Zürich, sondern zum Beispiel auch Barcelona war in den Jahren 1916-1918 ein europäisches Zentrum der Avantgarde. Aus der russischen literarischen Avantgarde gibt es nicht nur Manifeste, sondern schon 1906 fanden sich im Werk von Chlebnikov Poesie-Elemente, die mit der Sprache selbst arbeiteten, was später zu ZA-Um (»transmentaler Sprache«) führte. Die Ziele der tschechischen Avantgarde (neue Ästhetik, gesellschaftliche Funktion der Künste) artikulierten sich hauptsächlich in den Essays von Karl Teige, der zu einer neuen Form ansetzte, dem Bildgedicht als Verschmelzung von Malerei und Poesie. Dabei identifizierte er die Kunst mit dem Leben, sein »Poetismus« verstand sich als neue Ästhetik und Philosophie sowie als modus vivendi. Von der serbischen Avantgarde wird weiter unten noch im Zusammenhang mit YGs Manifesten die Rede sein. Es sollte erwähnt werden, dass bezüglich der Internationalität auch die Emigration eine große Rolle spielte; während der Zeit des zweiten Weltkriegs gingen Künstler aus Deutschland und Frankreich nicht nur in die USA, sondern auch nach Lateinamerika, wodurch sich dann, etwas verspätet, der Einfluss der europäischen Avantgarde auch auf diesem Kontinent ausbreitete.

Die avantgardistischen Bewegungen traten in den verschiedenen Ländern fast gleichzeitig auf. Ihre Internationalität ist aber nicht nur an dieser Gleichzeitigkeit festzumachen, sondern auch daran, dass es einen regen geistigen Austausch zwischen den Vertretern der Strömungen in allen Ländern gab. Das wurde vor allem durch die Zeitschriften gewährleistet, in denen es oft mehrsprachige Abdrucke (z.B. der Manifeste) gab, außerdem durch Persönlichkeiten wie Herwarth Walden, der nicht nur die Zeitschrift »Der Sturm« in Berlin gegründet hatte, sondern auch eine Galerie gleichen Namens. Er war ein Hauptvermittler zwischen französischer und deutscher Malerei und spielte eine große Rolle für die Wahrnehmung beider Künste und der zwischen ihnen bestehenden Beziehungen. So leitete er 1912 in Berlin eine Delaunay- Ausstellung ein und veröffentlichte fast gleichzeitig im »Sturm« den Aufsatz Apollinaires, in dem von der »poetischen Malerei« die Rede ist.

Bezüglich des vielschichtigen Themas Notwendigkeit und Scheitern der Avantgarde, aber auch Avantgarde als geschichtsphilosophisch – logisches Problem wird verwiesen auf die Thesen von Paul Mann und P. Ludger Fischers »Versuch einer Begriffsgeschichte«. Ein weiteres Problem des Begriffs »Avantgarde« hat H. M. Enzensberger (1987) aufgezeigt: »Wer nämlich, außer ihr selbst, entscheiden soll, was zu jener Zeit ›vorne‹ ist, das bleibt offen.«

Betrachtet man die literarischen Bewegungen der »Historischen Avantgarde«, der »Ismen«, die sich in den ersten fünfundzwanzig Jahren des Jahrhunderts manifestierten, fällt auf, dass sie »keinen Stil entwickelt haben, es gibt keinen dadaistischen, keinen surrealistischen Stil«. Diese Bewegungen haben vielmehr (nach Bürger 1974) die »Möglichkeit eines epochalen Stils liquidiert, indem sie die Verfügbarkeit über die Kunstmittel vergangener Epochen zum Prinzip erhoben haben.« Ein Gemeinsames hingegen war die zentrale Äußerungsform: die Manifeste. Diese enthielten nur zu einem geringen Teil konkret umsetzbare oder zur Umsetzung vorgeschlagene Projekte. »In ihnen buchstabiert die Avantgarde die verschiedenen Möglichkeiten, diesen Sprung {den der Übertragung des absoluten Geltungsanspruchs von Kunst auf die Gesellschaft insgesamt,Verf} aus der Kunst nicht nur zu denken, sondern auch auszuprobieren« (Fähnders 1997)

Als besonderes Merkmal der Avantgardekunst gilt Simultaneität. Das ist der »Kern von Apollinaires Ästhetik (Mackworth), wobei besonders die Futuristen versuchten, den Begriff des Raums mit dem der Zeit zu vereinen. Außerdem sollte Denken und sinnliche Wahrnehmung gleichzeitig integriert werden. Weiterhin gehören zur Avantgardekunst das Montageprinzip (montierte Wirklichkeit) und Themen und Motive aus der technisch-zivilisatorischen Modernität (Brümann). In Bezug auf die Form sind zu nennen die »Parole in libertà« Marinettis, die Aufhebung der Syntax und das Prosagedicht. »Es ist an den Vers gerührt worden« und »Als ein glücklicher Fund wird sich der freie Vers erweisen« hatte Mallarmé gesagt, und all das gab es auch schon seit Apollinaire. Neu ist die Auffassung, dass ganz neue Kunst entstehen muss, in der Maßstab nicht mehr Schönheit, sondern Ausdrucksstärke ist.

War YG ein Avantgardist? Legt man Bürgers Kriterien an, spricht Vieles dagegen, da er weder die Institution Kunst abschaffen wollte noch den Werkbegriff jemals in Frage gestellt hat. Auch war er ein Einzelgänger, was allerdings nach Fähnders das Avantgardistische nicht ausschließt. Er gehört aber ohne Frage in dieses Jahrhundert der Avantgarden, wie Fähnders es umreißt, geht es doch letztlich darum, »ob die Avantgarde normativ zu fassen ist, ob also essentialistische Bestimmungen zu formulieren sind,« oder ob sie [...] »relational, also stets in Bezug zu Vorigem und Anderem aufgefasst wird« (Fähnders 2010). In diesem Sinne traten am Anfang des Jahrhunderts sowohl in den bildenden Künsten als auch in der Dichtung Avantgarden in verschiedenen Formen auf, die »Ismen«, wobei diese sowohl zeitlich als auch inhaltlich ineinandergreifen und deshalb nicht isoliert betrachtet werden können, wie Expressionismus, Futurismus, Kubismus, Dadaismus, aber auch andere wie z.B der mehr im englischsprachigen Raum wirksam gewordene Imagismus.
 

Jedes Kunstwerk ist Kind seiner Zeit, oft ist es die Mutter unserer Gefühle.
Wassily Kandinsky

Yvan Goll innerhalb der europäischen Avantgarde

YG hat nicht nur an allen Avantgardebewegungen teilgenommen, sondern sie auch maßgeblich mitgeprägt. Dass sein Einfluss teilweise nicht wahrgenommen und weiterhin unterbewertet wird, hängt mit den im ersten Kapitel angedeuteten Besonderheiten zusammen. Von den expressionistischen Anfängen bis zu seinem Tode 1950 hat er nicht nur sein dichterisches Werk geschaffen, sondern über dreißig Jahre hinweg in seinen theoretischen Schriften einen Beitrag zum Poetik-Diskurs des 20. Jahrhunderts geleistet, der unter anderen Umständen hätte folgenreicher sein können. YG kam aufgrund seiner ganz speziellen persönlichen Situation als Elsässer (Bilingualer zwischen Deutschland und Frankreich) und Jude, ebenso aber aufgrund der spezifischen Geschichte der Zeit, die ihn in verschiedenen Phasen nach Paris, Zürich und Berlin, schließlich ins Exil in die USA führen sollte, mit den verschiedensten Strömungen der Kunstszene in unmittelbare Berührung und nahm sie in sich auf. Er ist vom Expressionismus stark beeinflusst worden, war selbst expressionistischer Dichter; Pinthus nahm sieben seiner Gedichte in die Menschheitsdämmerung auf. Von 1914 bis 1918 hatte er Lyrikbände veröffentlicht, zunächst die Lothringischen Volkslieder, dann den Panamakanal, der die neue Phase zeigt: das Interesse am Technischen mischt sich mit der expressionistischen Menschheitsverbrüderung, wobei sich anhand der verschieden Versionen die Entwicklung verfolgen lässt; schließlich hat er 1921 den Niedergang des Expressionismus beschrieben. Mit Ausbruch des ersten Weltkriegs doppelt »heimatlos«, wurde er doch von beiden sich als Feinde gegenüberstehenden Heimatländern nicht als Pazifist, sondern als jeweiliger Fahnenflüchtiger angesehen, ging er wie viele Intellektuelle in die Schweiz, wo er zunächst intensiver mit dem Dadaismus und Futurismus in Berührung kam. Zu Dada entwickelte er nach den Aussagen von CG aber kein Verhältnis, er »fand all das Gezappel und die Scharlatanerie mitten im Krieg recht unangebracht« (CG 1908). Zyklische Dichtungen entstanden, das Requiem für die Gefallenen von Europa, charakteristisch erscheint hier schon »Europa«, das ihn als Begriff nie mehr losgelassen hat und mit dessen Dekadenz er sich in seinen Romanen beschäftigte. Nach dem expressionistischen Menschheitspathos veröffentlicht YG politische Schriften im Sinne von pazifistischen Appellen an beide Seiten, aber auch den Appell an die Kunst, wo er die Kunst zur »sozialen Liebestätigkeit« erklärt. 1919 wieder in Paris, hat er u.a. Umgang mit Cendrars, Milhaud, Aragon, Man Ray, Leger, Chagall, Cocteau, Picasso, Malraux. Auf der Suche nach der »Urdichtung« denkt er an die »Zukunftskunst aus Asien«, sein Wunschbild einer neuen Kultur statt des ausgebluteten Europas, dichtet die Haikais. Schließlich treten die Großstadtfaszination, aber auch der direkte stark prägende Einfluss des Kubismus – an dem YG die Multiperspektivität bewunderte – in den Vordergrund: »Paris brennt«, das »kubistische Gedicht« (Philipps 1984) entsteht 1921. Es gibt also sehr viele heterogene Einflüsse, die einzeln nachgezeichnet werden könnten und müssten; erwähnt werden sollte zumindest R.Rolland, den YG als »reinsten Europäer« verstand und den er über Jahre als seinen geistigen Mentor ansah. Die drei wichtigsten Einflüsse für seine dichterische Entwicklung, seine Poetik und sein Lebensthema »Über-Realismus« stammen aber von G.Apollinaire, A. Artaud und V. Huidobro.

Guillaume Apollinaire, in Frankreich bereits auf der Höhe seines Ruhms, war in Deutschland nach dem Ende des ersten Weltkriegs fast noch unbekannt. Nach ihm sollte »die Realität in der Kunst nicht mehr naturalistisch nachgeahmt, sondern durch einen interpretativen Vorgang auf einer höheren, zur Realität analogen Stufe intensiver artikuliert werden«, wie Müller-Lentrodt schreibt. Apollinaires poetische Verfahrensweisen, Simultaneität und Montage, waren direkt am Kubismus orientiert. YG kannte Apollinaire aus Veröffentlichungen in Der Sturm zwischen 1912 und 1915 und beschäftigte sich weiter mit ihm in Paris. Sein Brief an den verstorbenen Dichter Apollinaire nach dessen Tod 1919 ist ein leidenschaftliches Bekenntnis zu diesem Autor. Der »brutalsten Wirklichkeit den Atem und Glanz überweltlicher Wahrheit einzuhauchen«, das sei an ihm ebenso wie an Villon zu bewundern. In diesem Aufsatz nennt er Apollinaire ausdrücklich als Denjenigen, der »den Taufnamen Überrealismus (Surréalisme, was mit dem realistischen Naturalismus nichts zu tun hat), für das längst Bekannte gegeben« habe, – Goll nennt die Reihe Horaz, Hans Sachs, Whitman, Tagore – dass »kleinstem Tageserlebnis tiefste Melodie entrauscht.« »Überrealismus! Überzeitlichkeit im Zeitlichen.« Apollinaire sei der »Verkünder der neuen asketischen Kunst des Kubismus«.

Dass YG, ein literarischer Kosmopolit, dem national ausgerichteten Apollinaire nicht unkritisch gegenüberstand, zeigt sich allerdings ebenfalls in diesem Text. Die Kritik bezieht sich auf den Dichter polnisch-jüdischer Abstammung, der diese seine Herkunft immer verleugnete ebenso wie auf den, der den »Krieg liebte.« »Hat sich der Krieg gerächt ? [...] Du hast sehr unrecht gehabt. [...] Du hast getötet, und selbst für so hohes Ideal war es unerlaubt. Aber Deine Schuld sühnte sich selber. Du starbest einsam, Du Dichter.«

Auf der einen Seite hat also YG Apollinaire als Dichter bewundert – die Lektüre von Zone aus dem Band Alcools war für ihn ein Schlüsselerlebnis und in seinem Aufsatz Paris, Stern der Dichter nannte er diese Dichtung »Inschrift des zwanzigsten Jahrhunderts.« »Er hat das »visuell ausgerichtete stilistische Legat Apollinaires [...] verteidigt, während Breton gleichzeitig den Begriff [Surrealismus, Anmerkung d. Verf.] für seine eigenen hochprogrammatischen ideologischen Ziele benutzte«, schreibt Vilain. YG hat kubistische Techniken von Apollinaire übernommen, nicht aber den Glauben an die Effekte nur aus dem Medium selbst. Weitere Unterschiede hängen zumindest zu einem Teil damit zusammen, dass Goll aus dem »deutsch« geprägten Expressionismus kam; man kann sie wie folgt tabellarisch kurz zusammenfassen:

Goll Apollinaire
Teilweise Bruch mit Tradition angestrebt Versuch, traditionelle Werte zu integrieren
Positiv, aber kritisch gegenüber
Technik und moderner Zivilisation
Fasziniert von der Technik
 
   
Pessimistische Kultursicht Positive Einstellung und Begeisterung
Gesellschaftskritisch
 
In Einklang mit der französischen Gesellschaft
Nicht kriegsbegeistert, pazifistisch
 
Nationalistisch, antideutsch, Kriegsfreiwilliger
Kosmopolitisch, international Führungsanspruch Frankreichs

 
Das Bewusstsein ist es, das die Wahrheit erschafft
Antonin Artaud

Antonin Artaud inkorporiert den radikalsten Surrealismus im Sinne einer permanenten Revolte gegen jede Art materieller und geistiger Unterdrückung. Er schrieb, malte und machte Theater, gab Zeitschriften heraus und war extrem erfolgreich mit seinem Theaterkonzept der »Grausamkeit«. 1925 wurde er Sekretär der Surrealisten. Er arbeitete an der Zeitschrift La revolution surrealiste mit, kam aber rasch in Konflikt mit Breton. Als die Zeitschrift 1928 in Le surréalisme au service de la revolution umbenannt wird, verlässt Artaud die Gruppe und geht nach Cuba und Mexiko zu den Tarahumara-Indianern, »einem Volk, dessen Riten und Denken älter sind als die Sintflut«. Ihn interessierten die Rauschzustände, er beschäftigte sich mit Voodoo und Hermetik, mit mythischen prähistorischen Quellen, einer anderen Kultur im Gegensatz zu der schriftlich niedergelegten europäischen, mit der es »offenbar zu Ende wäre, sobald die Texte vernichtet würden«. Europa bescheinigt er einen »Zustand hochgradiger Zivilisation: ich meine damit, dass es schwer krank ist«. Bei den Indianern findet er Schöpfungsriten, die zeigen, »wie die Dinge in der Leere sind und wie die Leere im Unendlichen ist, wie dann die Dinge aus dem Unendlichen in die Wirklichkeit traten«. Er beschreibt Felsformationen »wie mathematische Chiffren«, benutzt zum Teil die Sprache der hermetischen Philosophen. Er verweist auf die Kabbala, in der es eine Musik der Zahlen gebe. Zu dieser verborgenen Natur gibt es einen Zugang, Felsen sind Ziffern, anschaulich gewordene Weltformel, Natur nichts anderes als Mathematik. Er stellt anhand der magischen Zeichen der Indianer auch einen Zusammenhang her mit Robert Fludd und dessen Darstellung der Weltschöpfung ebenso wie mit den Rosenkreuzern. Die Ansicht, dass der Surrealismus die eigentlichen Dinge sucht, sie aber oft im objet trouvé finden kann, hat Artaud lange mit den Surrealisten geteilt. Darüber hinaus sei Surrealismus auch Auflehnung gegen Vaterfiguren, Erschließen von Wegen, wo man ins Geheimste vordringen kann, Mystik, Okkultismus und große Verweigerung. Artaud stellt das Ganze auch in den Kontext der westlichen Zivilisation, die in die Brüche geht, wenn sie die Phantasie liquidiert. Der Angriff gegen das Bewusstsein (»Die rationalistische Auffassung der Welt [...] erzeugt, was ich das gespaltene Bewusstsein nennen will«) ist eins seiner großen Themen, die alchemistische Verwandlung, das Gefühl der Einheit, des Erhabenen. Das Werk sei die Totenmaske der Idee, es müsse fließend sein. Der Körper sei Medium des Schmerzes, der Leidenschaft, des Nicht-Kontrollierbaren, dem Schlaf sei alchemistische Kraft eigen. »Das Subjektil«, das Subjekt als Waffe, ist Artauds Ausdruck. Er ist interessiert an Dezentrierung, dem Nicht-Ich. Da die Realität nicht ausreicht, erfindet er eine neue: die »Sorts«, Sendschreiben wie Totems oder Fetische, sind magische Botschaften, »idiosynkratische Welten«. Auch wenn Vieles hier in eine Psychopathologie des Wahns eingeordnet werden muss und die Erschaffung einer eigenen Welt in der Kunst von psychisch Kranken häufig ist, so ist doch überall hermetisch-alchemistische Sprache nachvollziehbar.

Das automatische Schreiben allerdings war für Artaud eine »Vergiftung des Geistes.« Er wies das Prinzip des Auges, des Sehens und Beherrschens zurück, darüber hinaus war ihm das Wort Maßstab »für unsere Ohnmacht, für unsere Trennung vom Wirklichen.« Am Ende sei daher Verlassen der Sprache nötig zugunsten von Lauten, Schreien, Gebärden. Artaud erlebte einerseits im Wahn andere Realitäten und erschuf andererseits wieder andere. »Eingestanden oder uneingestanden, bewusst oder unbewusst, im Grunde sucht das Publikum in der Liebe, im Verbrechen, den Drogen, in Krieg oder Aufstand einen Lebenszustand, der transzendiert, den poetischen Zustand«.

Der »Inquisitor« Breton (CG) entfernte Artaud aus der Gruppe der Surrealisten. Bei Artaud liest sich das so: »Ob Artaud die Revolution scheißegal sei? wollte man von mir wissen. Eure ist mir scheißegal, meine nicht, antwortete ich und trennte mich vom Surrealismus, weil auch der Surrealismus eine Partei geworden war.«

Vicente Huidobro, chilenischer Dichter, 1893 geboren, kam durch den literarischen Salon seiner Mutter mit dem Werk Apollinaires in Kontakt, schrieb zunächst romantisch beeinflusste, dann gesellschaftskritische Gedichte. Bei der Vorstellung seiner Theorie des »Creacionismo« sagte er: »La primera condición del poeta es crear, la segunda crear, la tercere es crear.« Im gleichen Jahr erscheint ein Gedichtband mit dem Gedicht Ars poetica, in dem steht, der Dichter solle sich nicht auf das Besingen einer Realität konzentrieren, sondern eine andere erschaffen.

Der Creacionismo bricht mit der Tradition der Abbildung von Realität. Die Dichtung verzichtet auf Mimesis im Sinne von Nachahmung, die Umsetzung erfordert neue sprachliche Möglichkeiten; allerdings entsteht das Neue nicht aus dem Nichts, sondern Traditionen werden integriert. Technisch kann das dadurch erreicht werden, dass man Fragmente von Altem neu zusammenstellt oder Bruchstücke von Altem in Neues einfügt. Der Dichter soll nicht imitieren, sondern erschaffen. Huidobro sieht Dichter und Natur als gleichberechtigte Schöpfer an. Diese Analogie zwischen der Schöpfung Gottes (der Natur) und der vom Dichter geschaffenen Welt führt letztlich zu der Aussage, dass der Dichter auf der gleichen Stufe wie Gott stehe. Allerdings handele es sich hier eher um ein erst in Zukunft zu erreichendes Ideal. Kriterium der Schönheit ist das Ungewöhnliche. Das erinnert an Lautréamont, an Reverdy, auf die sich auch die Surrealisten um Breton berufen, aber Huibrodo setzt sich scharf von diesen und vor allem dem automatischen Schreiben ab. Der Künstler soll Elemente aus der bekannten Welt aufnehmen, sie bewusst transformieren und kombinieren, um daraus neue Welten zu schaffen. Immer wieder stellt Huibrodo die Wichtigkeit der Vernunft beim Dichten heraus. Dabei gibt es die Muse oder die Inspiration durchaus, der Dichter bringt das Werk in einem Zustand des »delirio poetico« hervor. Der kreative Akt steht im Zentrum. Es findet ein Transfer von der äußeren »objektiven« Welt nach innen statt (»Sistima«), dann wird über die »Tecnica«, die künstlerische Arbeit, der Transfer von innen nach außen vorgenommen. Huidobro weist die psychoanalytische Ausrichtung des Bretonschen Surrealismus zurück, wie aus seinem Manifiesto de Manifiestos 1925 hervorgeht. YG hat Huidobro gekannt und bewundert, er hat auch eigene Texte in dessen Zeitung »Creation« veröffentlicht. Creation pure sei die Forderung, die er an sich und alle stelle. »Die Kunst ist die Humanisierung der Natur« zitiert er Huidobro. Nicht »schildern und kopieren, was da ist, sondern mit dem Attribut des Menschlichen ausgestattet neue Daseinswerte schaffen«. Dichtung sei ein solcher Daseinswert, die Erschaffung einer neuen menschlichen Natur. So entstehe des »Dichters Wort metaphysisch ganz aus menschlichem Geist«.

Die wesentlichen Einflüsse auf YG lassen sich wie folgt zusammenfassen:

Von Apollinaire hat Goll übernommen: den Begriff Surrealismus; den Überrealismus als Wahrheit, (mit den neuen Mitteln des Dichters verwirklicht); die Überzeitlichkeit und die Erhebung aus dem Alltag. Nicht übernommen hat er die Faszination durch das Material an sich, die Effekte aus diesem ohne Komposition.

Durch Artaud wurden verstärkt seine Affinität zum Hermetischen und Okkulten, zur Zahlen- und Buchstabenmystik der Kabbala, seine Beschäftigung mit der Art Brut, allem »Anderen«, mit den verschiedenen Versuchen, Realität zu übersteigen; ferner die Ablehnung der Ecriture automatique. Im Unterschied zu Artaud neigt sich bei YG das Gewicht mehr zur Überrealität und bei Artaud mehr zum Absurden.

Mit Huidobro verbinden ihn: das Nicht-Abbilden, vielmehr Neuerschaffen, durchaus im Sinne des »Creacionismo«; die Analogie von Schöpfer und Dichter; der hohe Stellenwert der Vernunft,die Ablehnung der Ecriture automatique und die Betonung des Kompositorischen im dichterischen Akt; ferner die Ansicht, dass neue sprachliche Möglichkeiten nicht aus dem Nichts entstehen, sondern von Tradiertem ausgehen und in solches integriert werden können.

Über diese drei wesentlichen Einflüsse hinaus hat YG aus dem Fundus aller Gedanken und Theorien seiner Zeit geschöpft und sich davon prägen lassen. So verband ihn mit Magritte der Glaube an das »Mysterium«, welches sich in der Kunst ereignet. Goll erscheint als der poeta doctus, der alles in sich aufnimmt, verarbeitet und verwendet und genau aus diesem Grunde auch nicht in eine bestimmte Gruppe mit festgelegter Ideologie passte (wie es für de Chirico einmal zutraf und neben Artaud zum Beispiel auf Magritte oder auch Max Ernst zutrifft).

Yvan Golls theoretische Schriften

YG hat von Anfang an sein dichterisches Schaffen mit theoretischen Reflexionen begleitet. Schon Müller-Lentrodt (1997) hat darauf hingewiesen, dass es dabei nicht eigentlich um poetische Programme geht, die dann in Dichtungen umgesetzt werden sollten, ebenso wenig wie es bei den Dichtungen um die Einlösung dieser Programme geht. Vielmehr sieht man das, was Benn in seinem Vortrag »Probleme der Lyrik« über Lyrik und Essay sagt: »Fast scheinen sie sich zu bedingen«. YG schreibt keine Programme, er dichtet und reflektiert Dichtung.

Texte 1917 bis 1920

Von 1917 bis 1920 erscheinen an wichtigen Texten: Vom Geistigen, Appell an die Kunst, Das neue Frankreich, Brief an den verstorbenenen Dichter Apollinaire, Pariser Tagebuch und Über Kubismus sowie Von neuer Französischer Dichtung. Sie zeigen am Anfang den deutlichen Einfluss des Expressionismus («Rufe an den Menschen«), auch des Futurismus (»Schrei«-Manifeste) und propagieren den »Geist«, der »immer dagegen« sei, gleichzusetzen mit dem »ewigen Kampf« mit der Gegenseite, die die »Satten, die Denkfaulen« umfasst; sie enthalten ferner die Definition, dass Kunst »Liebe« sei. Dabei wird deutlich gemacht, dass mit dieser Liebe eine »soziale Liebestätigkeit« gemeint ist. Der Künstler ist Arbeiter und seine Arbeit ist »Kampf«, die Kunst »erheischt Publikum, ist eine öffentliche Angelegenheit«. Das kann gelesen werden als Absetzen von dem Elfenbeinturm der l’art pour l’art, ist aber noch wenig differenziert. Ganz allgemeine Forderungen wie »Der Mensch kehre zum Menschen zurück« bleiben allerdings nicht allein. »Heute schimpft man auf Literaten, die nach politischer Wirkung trachten. Wie soll ein geistiger Arbeiter wirken als durch geistige Aufstachelung?« zeigt die Tendenz schon deutlicher; schließlich wird es ausgesprochen, das »egoistische l’art pour l’art«. In Frankreich habe es jedenfalls scharfen Protest gegen den Krieg gegeben, in Deutschland sehr wenig. Obwohl das Soziale einen sehr hohe Stellenwert einnehme, bleibe aber das Individuum die »einzige Realität«. Alles müsse auf ihm und seinem Interesse aufgebaut werden. Gewollt sei eine »tätige«, eine »brüderliche« Kunst«. In dieser Kunst handelt das Individuum, denn »Handeln bedeutet: Denken, schöpferisch sein.« Der Text soll zum »Leben und zur Realität« aufrufen, der gemeinte Individualismus sei »Tatbewusstsein« wie bei Luther, Erasmus und Bakunin, er sei »der Geist der Revolution«.

Im Brief an den verstorbenen Dichter Apollinaire geht Goll einen Schritt weiter. Die Erhebung des Volkes aus dem Alltag in die Überzeitlichkeit sei ein Ziel, welches dieses Volk Villon und Apollinaire verdanke. Dass dem »kleinsten Tageserlebnis tiefste Melodie entrauscht« betont Goll zugleich damit, dass Apollinaire dieser »durch alle Jahrhunderte der Dichtung bewiesenen Tatsache« »theoretischen Sinn und zugleich den Taufnamen [gab]: Überrealismus (Surréalisme), was mit dem realistischen Naturalismus nichts gemeinsam hat.« Überrealismus wird etwas weiter unten dann als »Überzeitlichkeit im Zeitlichen« bezeichnet. Darüber hinaus aber erstehe noch mehr aus den Worten, aus dem »Bild des Gedichtes« als aus Klang und Rhythmus, »in Worte gegossene flimmernde Wellen des Aug-Ozeans«. Dieser Text, geht es auch schon in früheren Texten um Kunst, beschäftigt sich also als erster ganz ausdrücklich mit der Poetik.

Pariser Tagebuch und Über Kubismus erschienen beide 1920. Im ersten steht: »Wenn der Bürger mit seinen Fettfingern in solchen Asketismus, wie es der rein verstandene Kubismus ist, hineinfuchtelt, so ist die Kunst verloren.« Kubismus sei Hingabe an das bloße Sein der Dinge«, »Abkehr von aller äußeren Erscheinungswelt«, nicht ein neuer Geist, sondern eine neue Form. »Malerei ist weder Wiedergabe der Natur noch Bestätigung einer Gesinnung […], Malerei ist nichts als Malerei.« Der Kubist male Tisch, Mandoline, Traube »in ihrem innersten Sein«, er suche die »Vereinfachung der Dinge und ihre Objektivität, das ›Ding an sich‹.« Er sei Künstler mit der Aufgabe, »eine Schöpfung zu geben, eine Einheit, eine Welt in sich«.

Ebenfalls 1920 erschien der längere Text Von neuer französischer Dichtung. Dem Willen zur Macht des 19. Jahrhunderts würde der »Wille zum Geist« entgegengestellt. Selbstbesinnung habe zu einer Befreiung geführt, die aber entgegengesetzte Wirkungen hervorgebracht habe: Entwicklung zur politischen oder zur reinen Kunst. Erstere überwiege noch in Deutschland, in Frankreich habe sich der Mensch im Anschluss an das instinkthafte Aufschreien auf seinen Intellekt besonnen. Des Geistigen Werkzeug sei das geistige Werk. Die neueste literarische Generation in Paris habe »Clarté« und »Individualismus.« Dass die Kunst zur sozialen Erneuerung beiträgt, wird wie im ersten Text betont, ebenso der Stellenwert des Individuums als schöpferisches Wesen. Golls Text führt zu Unterscheidung zwischen »Menschlichkeitskunst« und »Künstlerischer Kunst« und dann zu neuerlicher Definition des »Überrealismus«, der »als neue Gottheit« proklamiert werde, nachdem »aller Realismus als langweilig empfunden« würde und allem Vorausgegangen, von den Parnassiens bis zum Symbolismus, »alle Schilderung, Abzeichnung, alles egoistische Baden in schönem Gefühl« vergangen sei. Er sei »nicht Überhebung über das Irdische, aber tiefes Einleben in dieses, ganz Ergebung an das Seiende, [...] an jeden Augenblick, der ja ein Stück Ewigkeit ist.« Der Dichter wolle »nicht übersinnlich, aber transsinnlich« sein. Diesen neuen Inhalten gebühre eine adäquate Form. Der Vers wolle »nicht Verschönerung, nicht illusionistische Verbildlichung und metaphernhafte Umschreibung, er wolle »er selbst sein, schöpferische Schöpfung, Kunst. Der Vers, nicht mehr schön, sondern Ausdruck der außerordentlichen Wahrheit«. Die Welt werde in die Atmosphäre der Überwirklichkeit getaucht, das bedeute der »letzten ganzen Wirklichkeit«. »Es sollen nicht mehr Sätze geformt werden, sondern Dinge aus Worten.« Apollinaire habe bereits diese Forderungen aufgestellt (»L’art doit être une création et non une représentation«) und dann auch realisiert. Die »Dinge aus Worten« würden allerdings eine neue Technik erfordern: »Keine Grammatik mehr, keine ganzen Sätze«, und wenn es möglich wäre, dann würden Stücke von Dingen »in die Bücher hineingeklebt werden, wie es die Maler in ihren Gemälden tun.«

Weiterhin erschienen in den Jahren 1919 und 1920 Texte zur dramatischen Kunst. Diese müsse »den Menschen wieder zum Kind machen«, das einfachste Mittel dazu sei die Groteske«, aber ohne dass sie zum Lachen reize.« Das neue Drama würde »alle technischen Mittel zu Hilfe ziehen, die heute die Wirkung der Maske auslösen«, wobei YG das Grammophon ebenso nennt wie die Maske der Stimme, außerdem müssten Masken mit physiognomischen Übertreibungen eingesetzt werden. Darüber hinaus sei die »Basis für alle neue kommende Kunst […] das Kino. »Wir stehen in einem neuen Zeitalter, dem der Bewegung.« Bild jage Bild, die Bewegung sei das neue Element. »Die Umwälzung war seit langem gespürt: Futurismus, Simultanismus. Picasso in der Malerei. Stramm in der Lyrik. Ahnungen«. Endgültig seien Raum und Zeit überrumpelt, die »höchsten Forderungen der Kunst: die Synthese und das Spiel der Gegensätze« würden »durch die Technik erst ermöglicht«. Im unbegrenzten Raum sei nicht die Handlung, sondern die Bewegung die Basis, jeder Traum sei im Film realisierbar, die »Fabel des einheitlichen Raums, der fünf Akte und allen Kulissenrequisits« dahin. Das »Kinodram« werde nicht nur Dichtung sein, sondern alles: »Malerei, Musik, Plastik. Tanz«. Es habe aber auch eine »soziale Bedeutung«, sei es doch nicht für ein Land geschaffen oder für eine Elite einer Stadt gespielt, vielmehr gehöre es allen. Zudem werde es bald »eine Kinosprache geben. [...] Eine Radiogramm-Lyrik«.

Texte 1921-1923

Im Januar 1921 veröffentlichte YG in der Zeitschrift Zenit den Text Der Expressionismus stirbt. Expressionismus, das sei nicht der Name »einer künstlerischen Form, sondern einer Gesinnung« gewesen. Alle seien dabeigewesen, auch er selbst, aber das Resultat sei »leider, und ohne Schuld der Expressionisten, die deutsche Republik 1920«. Jetzt sei der Kampf zur Groteske geworden, der »Geist in dieser Schieberepoche Ulk.« Die Weltanschauung des Expressionismus habe nirgendwo gesiegt, dieser habe nicht einem von sechzig Millionen das Leben gerettet. Jetzt scheine »eine neue Kraft über uns zu kommen: die gehirnmaschinelle«. »Weg mit der Sentimentalität, ihr Deutschen, was gleichbedeutend ist mit: Ihr Expressionisten«. In Frankreich sei man während des ganzen Krieges nicht sentimental geworden. »Neue Länder rufen hinterm Ural, [...] hinter allen Ozeanen ihren Willen zum Leben [...]. Junge Länder. Junge Menschen.« Dieser Text Golls ist wichtig und zunächst überraschend, weil der Autor sich ja im Unterschied zu den meisten zum Expressionismus gezählten Dichtern ausdrücklich selbst als Expressionist bezeichnet hatte. Spätestes aus seinem Abschiedstext geht klar hervor, dass gerade er den Expressionismus nicht als rein künstlerische Bewegung, sondern im Sinne einer umfassenden geistig-moralischen Erneuerung begriffen hatte.

Vier Monate später, im Mai 1921, erschien in der gleichen Zeitschrift Zenit das Zenitistische Manifest. Dieses nun, offensichtlich stark vom Dadaismus geprägt, schreit ganz im Stil der Manifeste den »Hass« heraus auf die »Lügen des Lebens«, die »Phrasen der Liebe«, wo doch die Nationen »als Tiere, als Mörder, als Militaristen« geboren und aufgepäppelt worden seien, ein »vergiftetes Geschlecht«, dem »ZENIT« entgegengesetzt wird als Ausdruck von Sonne, Wahrheit, gegen die »sentimentalen Kleinnationalen« und den »Quatsch« von Nationen, Stammbäumen, Urgeschlechtern. Nicht Franzosen, Serben, Deutsche seien die Menschen, sondern Europäer, Amerikaner, Afrikaner, der Mensch müsse »ohne Abzeichen [...] in die offene SONNE der Wahrheit treten.«

YG hatte sich dem Zagreber Kreis und der Bewegung des Zenitismus genähert, weil ihn offensichtlich der Internationalismus faszinierte. In der Zeitschrift wurden mehrsprachige Texte veröffentlicht. Der Herausgeber Micic allerdings verband »seinen avantgardistischen, sehr stark am italienischen Futurismus ausgerichteten Ausdruckswillen mit (vom deutschen Expressionismus inspiriertem) Menschheitspathos und Ideen eines balkanvölkischen Kraft- und Übermenschentums« (Ullmaier 1995), was zu YGs pazifistisch-kosmopolitischer Grundhaltung keinesfalls passte. So wurde die Nähe zum Zenitismus für die Entstehung seines Gedichtes Paris brennt wichtig, letztlich dauerte sie aber nicht lange, wie überhaupt der Zenitismus eine kurzlebige avantgardistische Bewegung war. YG hat ihn wahrgenommen als »Bändigung und Zusammenballung aller Ismen«, wobei erstrebenswert wäre, aus allen das Beste zu nehmen. Nach White ( in Robertson -Villain 1997) hat der Zenitismus YGs seine Wurzeln nicht nur im deutschen Expressionismus, sondern auch und besonders im französischen Orphismus und im italienischen Futurismus, mit beiden teile er den Anspruch, die definitive literarische Repräsentation eines neues Zeitalters zu sein. Im Übrigen sei der Zenitismus ein »marginal balkan avantgarde literary movement« und »die ismensynkretistische Propagierung modernistischer Stilmittel als essentiell eine Fortsetzung des Expressionismus mit anderen Mitteln« gewesen, während auf der anderen Seite er ihn in Apollinaires Schuld stehen sieht, »dessen Eklektizismus er weiter entfaltet und forciert.«

Den Expressionismus hatte YG überwinden wollen, (»er »stirbt«), aber seine Haltung dazu war wohl sehr komplex, nicht nur ablehnend. Er wollte seine expressionistische Lyrikauffassung eher erweitern und modernisieren als ersetzen. Der Text, in dem er das formuliert und expressis verbis von einer »neuen Poetik« spricht, wurde im Oktober 1921 veröffentlicht: Das Wort an sich. Hier geht Goll nochmals auf den Expressionismus ein, aber nicht mehr auf dessen Inhalte. Was gefehlt habe? »Die Form«, und Form müsse »der adäquate, innerlich wie äußerlich begründete Ausdruck eines Zeitinhaltes sein.« Die heutige Form sei »eine Vertikale«, steil müsse also auch die Sprache sein, »hart. Nackt. Und vor allem eindeutig.« Die Expressionisten hätten diese Notwendigkeiten gespürt, aber nicht gelöst. »Die Sprache wurde vergewaltigt und verhurt, statt zur großen Einfachheit und Keuschheit erhoben.« Zum Ausdruck des neuen Empfindens gehöre eine »Ursprache, eine einfache, eindeutige Kunst«, denn »Lyrik muss eindeutig sein.« Es sei fraglich, ob eine europäische Sprache »mit soviel Klassikern im Blut« das noch sein könne. Er würde deshalb versuchen, Esperanto zu dichten. Es gelte, »den größtmöglichen Inhalt in die akuteste und zugleich einfachste Form zu bringen, [...] tiefstes Erlebnis in Telegramme zu komprimieren, und zwar stenographiert.« Und dann die Frage: »Und dabei doch Gesang sein?« Und die Antwort: »Nicht gerade Gesang. Aber Rhythmus«. »Das Wort an sich« sei die Formel einer Lyrik, die »modernen Forderungen gerecht wird«, allerdings nicht im Sinne von Marinetti, der »Wort« und Dichtung materialistisch auffasse, denn: »Wir glauben an die metaphysische Sendung der Poesie«. »Wort – an – sich – Dichtung ist nicht Ausdruck, sondern Andeutung«, das Gegenteil sei die »dekadente, gedanklich ausspinnende Kunst, die der müden sentimentalen Geschlechter.« Das Wort an sich sei »Materie, ist Erde, die gestanzt, Diamant, der ziseliert sein will. Es ist meist Hauptwort. Sehr realistisch.« Das erinnert an G. Benns 30 Jahre spätere Formulierung »Worte, Worte, Substantive!« Die »andere Einfachheit« sei der alleinstehende Satz. »Immer Hauptsätze. Jeder Satzvers in seine eigene Atmosphäre gestellt, wie Telegraphendrähte, alle isoliert, jeder seine eigene Meldung tragend. [...] Jeder Vers isoliert [...], deshalb kann es keinen Reim, keine Strophe mehr geben! Diese Dinge sind nicht nur unmodern oder langweilig geworden, sondern direkt unmöglich.« Allerdings: »Der Mensch wirkt nur je nach der Gesellschaft, in der er sich befindet. Der Vers auch. Jeder Vers muss ein Ganzes sein und bewusster Träger eines Ganzen.« Die japanischen Gedichte würden nur drei Verse brauchen, um die Welt auszudrücken. Einfachheit sei also »Überbordwerfen ralentierender Grammatik, […] letzte Reduzierung auf das Notwendige.« Besonders nötig sei aber die Einfachheit da, wo der Inhalt des Verses »zum Platzen geladen« sei, »die Elektrifizierung des Intellekts erfolgt ist: Hochspannung.« Die neue Form sei notwendig wegen des neuen Prinzips »Geschwindigkeit des Lebens, die durch die Technik hervorgerufen« sei. Wenn man sich dieses neue Prinzip nicht aneignen, die neue Sprache nicht erfinden würde, so könnten wir »primitiv für das vierte Jahrtausend« werden.

Hier werden futuristische Forderungen übernommen, so der Mittelpunkt von Technik, Bewegung und Geschwindigkeit sowie die größtmögliche Komprimierung. Allerdings können diese bei YG nicht in ideologische Forderungen eingeordnet werden wie bei Marinetti. Technik soll nicht angebetet und verherrlicht werden, sondern wahrgenommen als Ausdruck der Zeit, und nach dieser soll sich auch die Sprache des Dichters richten. Darüber hinaus soll Poesie sowohl »Rhythmus« wie auch eine »metaphysische Sendung« haben.

Das Manifest des Surrealismus

Golls Manifest des Surrealismus erschien zeitlich vor dem Bretons 1924 in seiner Zeitschrift »Surréalisme«. Realität, steht da, sei die Basis jeder großen Kunst, und jede künstlerische Schöpfung habe ihren Ausgangspunkt in der Natur. Als die Kubisten Gegenstände in ihrer ganzen Wirklichkeit in ihre Bilder hineinklebten, was »Übertragung der Wirklichkeit auf eine höhere künstlerische Ebene« bedeute, sei der Surrealismus entstanden. Die Konzeption stamme von Apollinaire, für den die Worte des Alltagslebens »eine seltsame Magie« gehabt hätten, so dass er aus elementarem Material poetische Bilder geformt habe. »Das Bild ist heute der Prüfstein guter Dichtung. Die Schnelligkeit der Assoziation zwischen dem ersten Eindruck und dem letzten Ausdruck bestimmt die Qualität des Bildes«, wobei die schönsten Bilder die seien, »die weit voneinander entfernte Elemente der Wirklichkeit am direktesten und schnellsten verbinden«. Im Gegensatz dazu habe bis zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts das Ohr über die Qualität eines Gedichts entschieden. Rhythmus, Klang, Stabreim, Vers, alles sei für das Ohr gewesen. Aber: »wir sind im Jahrhundert des Films. Mehr und mehr machen wir uns durch visuelle Zeichen verständlich. Schnelligkeit bestimmt heute die Qualität«. Kunst sei »Ausstrahlung des Lebens […].Überrealismus, Ausdruck unserer Epoche, hält sich an die Symptome, die sie charakterisieren. Er ist direkt, intensiv und weist Künste, die sich auf abstrakte Zweite-Hand-Begriffe stützen wollen, zurück: Logik, Ästhetik, grammatische Effekte, Wortspiele.« Außerdem begnüge sich der Surrealismus nicht damit, Ausdrucksmittel einer Gruppe eines Landes zu sein: »Er ist international. Er wird alle Ismen, die Europa spalten, aufsaugen und von jedem die lebenswichtigen Elemente nehmen.« Ohne Breton mit Namen zu nennen, folgt schließlich eine Beschreibung jenes anderen Surrealismus: »Diese Fälschung des Surrealismus, die einige Ex-Dadas erfunden haben, um den Bürger zu bluffen, wird wieder von der Bildfläche verschwinden. Sie verkündet die Allmacht des Traums und stempelt Freud zur neuen Muse. Als ob sich die Lehre Freuds in die Welt der Poesie übertragen ließe! Heißt das nicht, Psychiatrie und Kunst verwechseln? Ihr »psychischer Mechanismus«, auf Traum und gleichgültigem Spiel des Gedankens basiert, wird niemals die Kraft haben, unseren physischen Organismus zu zerstören. Denn dieser lehrt uns, dass die Realität immer Recht behält, dass das Leben wahrer ist als der Gedanke. Unser Surrealismus findet die Natur wieder, das Urgefühl des Menschen, und sucht, – mit Hilfe eines völlig neuen künstlerischen Materials – aufzubauen.« Auch wenn sich die Prognose Golls in der Geschichte als falsch erwies, weist er mit seiner Begründung auf etwas Grundsätzliches hin: einen Kategorienfehler. Das Problem ist nicht ausgestorben. Man wird erinnert an die unendliche zeitgenössische Diskussion um Gehirn und Bewusstsein zwischen »der Hirnforschung« und »der Philosophie«.

Goll eröffnete im August 1924 die eigentliche Auseinandersetzung um die richtige Auffassung des Surealismus, die »Querelle surréaliste«, (ausführlich behandelt bei Müller-Lentrodt 1997 und Knauf 1996), wobei er sich zunächst nur zum Anwalt Apollinaires macht, dann aber Breton auch direkt angreift. Vergleicht man die Manifeste der beiden Autoren, so fällt zunächst die Gemeinsamkeit auf, dass sich beide auf Apollinaire berufen, wesentliche Unterschiede werden allerdings ebenfalls gleich deutlich. So ging es Apollinaire ja weniger um Automatismen als »um ungewohnte Kombinationsweisen, die möglicherweise unbewusst oder versehentlich zutage treten, aber weder ohne Absichten noch künstlerischen Gestaltungswillen«, wie Bürger schreibt (in Reents 2009). Das hatte Apollinaire an seinem Beispiel von der Erfindung des Rades in Les Mamelles de Teiresias illustriert. YG lehnt Bretons Verabsolutierung Freuds ab, was nicht Ablehnung von Freud oder der Psychoalanyse bedeutet, sondern Ablehnung der Vermengung von Dichtung und Psychiatrie. Darüber hinaus steht im Mittelpunkt die Bildtheorie. Im Grunde geht es Goll immer um die Forderung nach einer Ausdrucksweise, die sich auf der Höhe der Zeit befindet: Überrealismus als »Ausdruck unserer Epoche«, andererseits bleibt er weiterhin der »Natur« und dem »Urgefühl des Menschen« verhaftet.

Warum blieb YGs Manifest folgenlos? Das am Ende angeführte »Urgefühl des Menschen« oder dass der Surrealismus »mit Hilfe eines völlig neuen künstlerischen Materials aufzubauen sucht« ist eine sehr vage Formulierung. Im Gegensatz zu Bretons Manifest gibt es in diesem Text keine klaren Angaben zu einer Methodik oder Technik, kein Programm, welches gruppenbildend hätte wirken können. Bei Breton gab es klar strukturierte Vorgaben; allerdings wollte YG wohl auch gar keine Gruppe gründen und aufrechterhalten. Es ging ihm von Anfang an und immer nur um Dichtung. Er wehrte sich gegen die Vermischung von Psychiatrie und Literatur, wie er es nannte und wollte die Alltagswirklichkeit als Ausgangspunkt für die Dichtung betonen, wobei aber nicht wiedergegeben, sondern poetisch überrealisiert werden sollte, was ein Konzept und künstlerische Arbeit voraussetzt. Das unterscheidet ihn radikal von Breton, der den Autor ohne Konzept durch Automatismen und unbewusste Abläufe inspiriert, aber auch gesteuert haben wollte. Man könnte überspitzt formulieren, dass der Surrealist nach Breton primär »passiv« ist, Rezeptor, der Überrealist Golls »aktiv«, Gestalter. YG betonte im Gegensatz zu Breton immer wieder die wichtige Rolle des Kubismus für die Surrealisten. Er wollte neu zu erschaffende Wirklichkeit, Überwirklichkeit durch den Künstler, tastete aber ansonsten die Realität primär nicht an. Breton ging es dagegen um eine realité superieure, gekennzeichnet durch das Einreißen der den Menschen normalerweise einengenden Grenzen, hauptsächlich des Bewusstseins, wodurch es zu einer Erweiterung der sonst gegebenen Wirklichkeit käme. Darüber hinaus wollte Breton gesellschaftspolitischen Einfluss nehmen; YG wollte das nicht, für ihn blieb die Kunst letztlich im Reich der Ästhetik angesiedelt. Auch aus diesem Grunde nahm er wohl den Kampf mit Breton gar nicht auf, sondern zog sich nach dem Abend, an dem es zu einem Handgemenge Breton – Goll kam, zurück aus dem gesamten Diskurs, nahm keine Stellung mehr und zog es vor, sich nur noch seiner eigenen Poetik und Poesie zu widmen. Goll und Breton haben sich im amerikanischen Exil wiedergetroffen. Ein interessantes Licht auf das Verhältnis der beiden Männer wirft die von Müller-Lentrodt (1977) untersuchte Geschichte des damaligen Briefwechsels.

Die wesentlichen Unterschiede Goll – Breton seien nochmals zusammengefasst:

YG war ein Einzelgänger und hat sich letztlich in keine Gruppe eingefügt. Er hat den Surrealismus nie als politisches Programm empfunden. Er war gegen die psychoanalytische Ausrichtung des Bretonschen Surrealismus.

Vor allem aber hat er den »reinen psychischen Automatismus« (und damit auch die Ecriture automatique) abgelehnt, der nach Breton den Surrealismus definiert. Immer hatte er ein Konzept und ein Thema, welches er bewusst bearbeitete. Der »Surrealismus« Golls unterscheidet sich vom Surrealismus Bretons also hauptsächlich durch das Konzept des Dichters als Schöpfer neuer Welten, welcher Vernunft und Kenntnisse in den Schaffensprozess einbringt, im Gegensatz zum Empfänger erweiterter Realitäten, welcher dem ( nach Bretons surrealistischem Manifest) »Denk-Diktat ohne jede Vernunft-Kontrolle« unterliegt.

Das Manifest des Reismus

Vierundzwanzig Jahre liegen zwischen Golls Manifest des Surrealismus und dem des Reismus. Jahre, in denen sein großer Gedichtezyklus Johann Ohneland – Jean sans terre erschienen war, die Romane, die Wechseldichtungen mit CG, die Malaysischen Lieder. Jahre des Exils, schließlich der Krankheit. »Reismus« ist die letzte poetologische Reflexion, (Pouthier), der letzte Ismus des Dichters YG; von niemandem wird er geteilt, seine eigene Erfindung und Entdeckung ist er, und er starb mit dem Dichter. Nicht eingegangen werden kann hier allerdings auf die philosophische Reismustheorie bei T. Kotarbinski( Lemberger Schule). Es ist möglich, dass YG seine Schriften gekannt hat – zumal da Verbindungen Kotarbinskis zum Wiener und Berliner Kreis bestanden. Hinweise darauf habe ich in YGs Schriften im Verlauf meiner Recherchen aber nicht gefunden.

Die Eingangsfrage »Entspringt die Poesie dem Wort oder dem Gegenstand?« führt zunächst zu der – in eine rhetorische Frage gekleideten – Feststellung, dass eine Dichtung, die »nur dem Wort entsprang«, im Gebiet der Rhetorik, Grammatik, der vom Menschen erschaffenen Künstlichkeit« steckenbleibe. Was muss also geschehen? »Um die Essenz des Lebens auszudrücken, müssen Kunst und Malerei dem Ding an sich, dem Res, entströmen: Blume sein, mit der Wurzel verbunden. Diese Wurzel ist res und nicht Realitas. Sie ist das vegetative Objekt in Bewegung und nicht die Realität, wie sie der Mensch sieht, denkt oder träumt. Realismus, Surrealismus, Neue Realität stammen von der Wirklichkeit ab. Der Reismus, den wir als grundlegende Theorie vorschlagen, entspringt dem absoluten Ding. ›Am Anfang war das Wort‹? Stellen wir lieber fest: ›Am Ende war das Wort‹, nach einer langen geduldigen Metamorphose, die, im Dichter, den Gegenstand in Wort verwandelte.« Die Formulierung am Ende des Textes liest sich wie das persönliche Glaubensbekenntnis des Dichters YG: »Wenn es wahr ist, dass die Welt von einer sich unaufhörlich erneuernden Energie erschaffen ist, die die Völker Gott nennen, dann hat der Dichter die Aufgabe, mit dem Verb bewaffnet, aus seiner persönlichen Substanz das Wort mit der totalen Ausstrahlung zu gebären: Res. Der Reismus, im Gegensatz zur willkürlich abstrakten Kunst, die in der Dichtung mit der Idee und dem willkürlichen Bild des Gegenstandes spielt, streift das res ebenso nah wie der Gläubige die Essenz Gottes.«

Carmody hat einen Zusammenhang gesehen zwischen dem Reismus und dem, was er als »scientific poetry« bezeichnet. Assall meint, dass der Dichter hier für den schweigenden Gott spreche. Letzlich sagt der Text hier aber nur aus, der Dichter – Reist habe die Aufgabe, das Ding an sich (res) in Worte zu fassen und es dadurch zu zeigen. Das Kunstwerk entspringt also nicht dem Wort, sondern dem Gegenstand, dem »absoluten Ding«. Der Dichter erreicht durch seine Arbeit die Metamorphose, der Gegenstand wird in Wort verwandelt. Hier wird der Gedanke des modernen Dichters und seiner Arbeit im Wortlaboratorium kombiniert mit der alchemistischen Vorstellung der Möglichkeit von Umwandlung und Läuterung. Das hat auch Schwandt gesehen, der allerdings daraus schließt, es ginge darum, das eigene poetische Verfahren im großen Werk der Alchemisten zu objektivieren. Der Dichter ist nicht das Genie, welches nur als Medium für eine Eingebung existiert, sondern er ist ein Arbeiter mit der Aufgabe, das »Wort mit der totalen Ausstrahlung zu gebären«, kommt aber in diesem Prozess dem Göttlichen nahe.

Für ein weiterführendes Verständnis des Reismuskomplexes sind zwei Texte erhellend, die sich im Handschriftenarchiv des DLA Marbach befinden:

a. Reisme

Es handelt sich um ein Typoskript, unter dessen Titel vermerkt ist »Notes par Reisme faites quelques semaines avant sa mort«. Hier wird explizit auf die Kabbalisten Bezug genommen. »Le mot est l’ultime élement des élements. [...] C’est ainsi que les kabbalistes créent Dieu, en prononçent Son nom.« Die Technik sei gewesen, am Ende einen puren Extrakt herzustellen, den Namen Gottes, den höchsten Ausdruck des Seins. So habe Abulafia im 13. Jahrhundert Buch um Buch geschrieben, um durch »speculations verbales« den Namen Gottes zu suchen, zweiundsiebzig Namen habe er gefunden. »Le poete n’a pas besoin d’une religion, mais il a besoin d’une langue et d’un mythe, pour trouver le nom de Dieu. Ecrire un poéme, c’est rechercher, non la pierre philosophale, mais la parole philosophale, matière magique.« Am Ende steht in diesem Text YGs Definition von Gedicht und Dichter: »Le poème: exprimer la chose, lui donner existence humaine. Le poète: l’alchimiste de l’alphabet.«

b. Le Reisme

Hier handelt es sich um zwei Blätter (Kopie) eines Interviews mit YG im Hopital Civil Strasbourg 1949, die eingesehen werden können, aber nicht kopiert werden dürfen. Gefragt nach seiner persönlichen Dichtungstheorie, antwortet YG in diesem Interview, diese sei der Reismus, »l’árt qui va a la racine des choses et des mots [...] poesie extraite de la racine premiere: de Res, la chose qui est«. Es gehe immer um die Diskussion von Realismus und Surrealismus. Nach dem Überwinden des »Diktats des Unbewussten« hätten viele Surrealisten das Reale als Quelle wiedergefunden – was sei denn wohl realer als Bilder von Max Ernst oder Magritte? Die Post-Surrealisten würden zu den wahren Quellen zurückkehren, »au romantisme allemand qui contenait, sans theorie, tous les germs et toutes les vitamines de la poésie opposée a la realité«. Er kommt wieder zu sprechen auf die Begriffe Wort und Ding, erwähnt Sartre, der sich beschäftigt habe mit »Le Mot exprimant la Chose«, ebenso wie »les Mots en liberte d’Apollinaire« und »Parti-Pris-des Choses de Francis Ponge« und stellt Realismus (»l’art de decrire le monde comme on le voyait«) dem Reismus gegenüber («l’árt de faire surgir le monde de sa verité interieure, de ses lois fondamentales, de ses racines biologiques et cosmiques«). Schwandt (1968) weist darauf hin, dass Goll Sartre kannte, auch auf dessen Aufsatz im Hinblick auf F. Ponge, wo er das Wort »motchose« benutzt; ebenso weist er hin auf den Unterschied zwischen Goll und Ponge (Ponges Ziel sei Imitation: mot-chose, Golls Integration: motchose.) Beide vereine indessen, dass am Anfang des dichterischen Prozesses Dinge stehen, nicht Wörter.

Am Ende des Interviews schließt YG den Kreis zur Kabbala (» La Kabbale contient des trésors de matière poetique«) und bezieht sich auf Abulafia, dessen Bücher unter dem Pseudonym Raziel erschienen seien. »Celui qui nommera Dieu, le connaîtra«. Was sei also natürlicher für die Dichter, als die Kabbalisten nachzuahmen, denn auf diese Weise könnten sie sich der »connaisance suprême« nähern. »Et les poetes modernes font’ ils autre chose que de chercher par la Mot, a travers le Verbe l’éssence de la vie, la racine des choses, le nom de Dieu«.

Es mag richtig sein, was Carmody (1956) statuiert, dass sich am Manifest des Reismus zeige, YG besäße nicht » the manner of phrasing a theory that makes founders of schools« . Dennoch ist es kaum gerechtfertigt, zu sagen: »the concepts as stated are obscure«. YG verbindet hier das »Ding an sich« mit dem von ihm schon 1921 benutzten Begriff »Wort an sich«. Bereits 1918 hatte er eine Poetik entworfen, in der er wesentliche Aspekte in Bezug auf Mallarmé ansprach – das Wort als prima materia, seine Autonomie, die Objekterzeugung durch das Wort – wobei aber all dies jetzt immer mehr in alchemistisches und vor allem kabbalistisches Gedankengut integriert wird. Wesentlich ist, dass YG das Wort in den Mittelpunkt der Schöpfung stellt, die Dinge werden erst durch Sprache erschaffen. Das Problem, welches bereits Schwandt beschrieben hat, ist, dass er sich mit der Formulierung vom Ding an sich, welche er offensichtlich von Kant bezieht, auf die philosophische Ebene der Diskussion begibt. Er meint nun, das Ding an sich sei erkennbar ( im Gegensatz zu Kant). Allerdings geht es ihm gar nicht um Philosophie, sondern um Poetik; das Ding an sich wird nämlich durch das Wort offenbart, es ist erst erkennbar, wenn es die Metamorphose, die Transmutation, durchlaufen hat, die der Dichter vornimmt. Die Verarbeitung durch den Dichter ist ein alchemistischer Akt oder, je nachdem, eine kabbalistische Technik. Am Ende steht die neue Wirklichkeit mit neu erschaffenen »Dingen« durch den Dichter. Auch hier steht YG in der Tradition von Rimbaud und Apollinaire, Rimbauds Alchemie des Wortes und Apollinaires alchimies archilyriques.

 

Die Kunst soll die Realität überrealisieren. Das erst ist Poesie.
Yvan Goll

Yvan Golls Überrealismus und seine Poetik

Für den Realismus existiert die ganze materielle Wirklichkeit unabhängig von unserem Bewusstsein, unserer Anschauung, unserer Sprache. Nietzsche sprach von mehreren Arten, diese Wirklichkeit zu sehen, (Perspektivismus), aber auch vom Hinausgehen über die Bedingtheit des Menschen (Übermensch). Wie aus den Äußerungen YGs hervorgeht, stellt er die Realität an den Anfang, sie ist Grundlage, der Boden, von dem alles ausgeht. Dann aber geht es in der Kunst nicht um Nachahmung, sondern um Überrealisierung, um Neukonstruktion. Am Wort geschieht eine Metamorphose durch die Arbeit des Dichters, wobei neue Materialien, die auch nur Fundstücke sein können, im Sinne von Montage benutzt werden. So wird die Wirklichkeit durch den Künstler in eine neue Realität transforniert, ein alchemistischer Vorgang. Auch das Gedicht Ars poetica müsste hier einbezogen werden, welches schließlich nicht in der Form einer theoretischen Schrift, sondern in der strengen, an ein Sonnett erinnernden Gedichtform, die Grundlagen von YGs Poetik entwickelt. Man sieht, dass der Dichter eine konstruierende Kunst höher einstuft als eine beschreibende, und dass bei der konstruierenden Kunst zwei Dinge besondere Bedeutung haben: die Bildlichkeit und die Sprachvereinfachung und -verkürzung. Darüber hinaus ist das Selbstverständnis als Dichter bei YG eigentlich romantisch. Ullmaier hält auch die lebensphilosophische Prägung für eine Konstante.

Sieht man die theoretischen Texte über die Zeit hinweg, so kann man feststellen, dass YGs Themen immer um Realität, Sprache, Kunst und Poesie kreisen. Dabei findet sich eine Entwicklung vom enthusiastischen »expressionistischen« Aufschrei bis zum abgeklärt wirkenden Manifest des Reismus kurz vor seinem Tode. Dass Goll seinen Überrealismus so von Anfang an verfolgt hat, bis er am Ende im MdR endgültige Gestalt annahm, kann also allein schon an seinen theoretischen Texten nachverfolgt werden. Es geht ihm um das »Verstehenwollen von dem, was um uns, in uns und außer uns ist«, um dessen Darstellung und um dessen Überschreitung. Eine Umsetztung seiner theoretischen Positionen sah YG bei Joyce verwirklicht. »Man muss für die Kunst Joyces ein anderes Wort erfinden: Suprarealismus«. (Jan Bürger). Alle Beschäftigungen YGs mit verschiedensten Inhalten und Methoden sind in diesem Zusammenhang zu sehen und sind eingegangen in sein spätes dichterisches Werk. Ein ganz wesentlicher Bereich dieses Unbekannten, welches zu erforschen, zu verstehen und wenn möglich zu überschreiten wäre, ist das Phänomen Zeit. In dichterischer Verkürzung ausgedrückt ist Überrealismus also Überzeitlichkeit im Zeitlichen. Jedenfalls war YGs Thema nicht »nur die Liebe«, und selbst die Heimatlosigkeit, immer wieder in den Vordergrund hermeneutischer Bemühungen gestellt, ist nur als ein Faktor zu betrachten in dem Sinne, wie biografische Momente bei jedem Autor existent und werkbeeinflussend sind. So ist zum Beispiel die Zugehörigkeit YGs zum Judentum wohl der ausschlaggebende Grund dafür, dass er sich gerade mit der Kabbala mehr beschäftigt hat als mit anderen mystischen Systemen; als Thema seines Werks in seiner Gesamtheit taugt das aber nicht als Kriterium. Vielmehr ist es so, dass »Realität«, ihr Dasein, ihre Beschränkungen und ihre Ausdehnung sowie ihre potentielle Überschreitung das absolut beherrschendes Lebensthema war, in dessen Rahmen Golls Denken und Dichten zu verorten ist. Dies trifft ganz besonders zu für seine späte Lyrik.

 

Surrealism ist durch mich hindurchgegangen und hat seine Salze deponiert.
Yvan Goll

Golls späte Lyrik

Unter der »späten Lyrik« wird im Folgenden die nach der Rückkehr aus dem Exil entstandene Lyrik verstanden, im Unterschied zur Einteilung von Glauert (1996), die in der vierbändigen Gesamtausgabe der Lyrik Golls eine Trennung vornimmt in »Frühe Gedichte 1906 -1930« und »Späte Gedichte 1930-1950«. Unter Letzteren werden bei Glauert ausschließlich in französischer Sprache verfasste Gedichte bis 1947 zusammengefasst, ferner die Elégie de Lackawanna, die englischsprachigen Fruit from Saturn, die vermutlich 1942-1945 entstanden und weitere in Sammlungen nicht enthaltene englische Gedichte. Von den zeitlich spätesten Gedichten der letzten Lebensjahre wurden in diesen Band aufgenommen die Elégie d’Ihpétonga sowie Masques de Cendre, enstanden 1948 in Metz, auch Le Char Triomphale de l’Antimoine, ferner Bouquet Italien, Tryptique Vénitien, Les Cercles Magiques und Les Georgiques Parisiennes ebenso wie weitere »in Sammlungen nicht enthaltene Gedichte 1948-1950«. Das ist einleuchtend. Nicht einleuchtend ist, dass hier Multiple Femme und Traumkraut ebenso fehlen wie Abendgesang.Neila und weitere »in Sammlungen nicht enthaltene Gedichte 1946-1949«, darunter der Hiob-Komplex und der Komplex Hôpital und In den Hochöfen des Schmerzes. All diese späten Gedichte hat Glauert im dritten Band Liebesgedichte 1917-1950 zusammengefasst. Trotz der auch von ihr selbst ausführlich dokumentierten allgemeinen Schwierigkeiten mit YGs Nachlass und der Editionslage scheint dieses Vorgehen nicht gerechtfertigt, kommt es doch einer Vor-Interpretation gleich, indem es ohne weitere Begründung diese Gedichte zusammen mit den von vornherein als »Poemes d’Amour« deklarierten, 1925 von CG und YG gemeinsam veröffentlichten Gedichten auf eine Stufe stellt. Es wird zu zeigen sein, dass dies nicht gerechtfertigt ist, dass vielmehr Traumkraut viel intensivere Beziehungen zu den anderen »späten« Gedichten aufweist, die deshalb hier folgerichtig unter »späte Lyrik« zusammengefasst werden.

Nach den Wechselgesängen der Liebe Poemes d’amour, den Malayischen Liedern und Jean sans terre ist eine Veränderung der thematischen Schwerpunkte bei YG zu beobachten. Immer wieder tauchen die Wörter Tod oder thanatos, mort, sang und tombe auf, das andere Ufer, »sans billet dans la barque d’Acheron«, daneben der Würfel des Schicksals. Philosophische und hermetische Themen, Mystik und Mythen, ja, Themen der Transzendenz haben YG zeitlebens beschäftigt, ein deutlicher Niederschlag findet aber erst in der späten Lyrik statt. Dabei sind die entsprechenden Begriffe durchaus nicht erst in der Lyrik des Krankenlagers auszumachen, eine einfache biografische Zuordnung greift also nicht nur prinzipiell zu kurz, sie lässt sich auch gar nicht herstellen. In Metro de la mort ist vom Styx die Rede, Gedichte heißen L’Oeil, von den Türen der Philosophen wird gesprochen. Selbst im 1940 entstandenen Croix de Lorraine ist die Rede von Vin mystique, pain de peine, Rose des Chartres und Rosceau de Strasbourg. Man liest L’huile sacrée, Heilige, Hosianna, Lumiere de purificatrices. Vermischung von Christlichem und Magie ist überall zu beobachten. Inschriften, Initialen, Magie finden sich als Begriffe auch in Parmenia, die Apokalypse ist oft präsent, schließlich Kabbala, Talmud, Thora und weitere jüdische Begriffe (schofars de liberte) oder Themen und vor allem »Raziel«. Immer wieder taucht der Traum auf oder ein »herbe«, herbe verte, herbe folle. Weiterhin spielt die Zeit eine Rolle. Im Gedicht Prologue steht: »Quel temps-est-il? Je dis, Temps – Est -il temps encore? Il est deja temps?« Alles wird im Zusammenhang gesehen mit dem Unendlichen, Zahlen werden wichtig, Chiffren, Magie, Mythen und mystère. Der Bogen, der Dichter, Poesie und mystische Wissenschaften direkt und bewusst verbindet, wird dann etwa 1945 geschlagen. Zum »Hauptthema« wird das Ganze schließlich in Fruit from Saturn. Dort erscheinen Begriffe wie: my death and resurrection, the kabbalists compounded seventy names of God, the divine garment, holy beasts and mad angels, aber vor allem auch the spheric fruit from Sephirot. Einen Höhepunkt bilden schließlich die Sammlung, die ausdrücklich The Magic circles heißt, die Gedichte The Eye bzw. The eye of eyes und Raziel. Der Sammlung Fruit of Saturn hat Goll selbst Anmerkungen angefügt, in denen er Begriffe aus dem Umfeld der jüdischen Mystik wie The Kabbalist, Raziel, The Ten Sephirot erklärt, aber auch andere aus der Alchemie wie Uranium, Azimuth Circle sowie Samsara aus der Hindu-Philosophie.

Im Mythe de la Roche Percée kommt dazu, dass der Fels als lebendig beschrieben wird, von der »tendresse des pierres« ist die Rede, der Fels ist aber auch »Voix de la longue memoire« und ein »Roche philosophale.« In einem großen Kreis werden einbezogen Geschichte und Natur und alles endet wieder beim Atem Gottes: »Dechiffre nous le sanskrit des desmide. Lis – nous a haute voix de quartz hébraïque Pour que nous percevions enfin Le souffle petrifie de Dieu«. Auch zu dieser Sammlung gibt es einen »kleinen Führer zur Ersteigung des Durchbrochenen Felsens« von YG. Darin setzt der Autor ausdrücklich den »Mythus« mit der Suche nach dem Stein der Weisen gleich. »Der Dichter hat in seine Retorte zwei Teile Geologie und einen Teil Magie geworfen, um daraus die poetische Essenz zu gewinnen«. Antike und moderne Geographie verschmelzen in einem Kreislauf der Zeiten. Auch in der Ihpetonga-Elegie setzt sich dies fort. Vergangenheit und Zukunft treffen sich, eine »ville de totems« aber auch »le barque de Charon« und schließlich das Hermetisch-Androgyne.

Die Masques de cendres führen die Thematik weiter. In Rasiels Gesang hier wird eine ausdrückliche Verbindung zum Dichter und zur Poesie gezogen. Wieder heißt ein ganzes Gedicht Oeil, »Te regardant me regarder«; das Auge steht wieder in Verbindung mit Saturn, der Rose, der Verwandlung, dem blutigen Siegel und dem Jüngsten Gericht.

In Le Char triomphale de l’Antimoine sind schon die Titel charakteristisch, u.a. Le grand œuvre, Azoth, L’arbre Sephirot, Le semeur d’Hecagones, Transmutations, La Rose des Roses, L’œuf philosophique und wieder Raziel, darüber hinaus aber auch Titel, die auf Memnon, Paracelsus und Heraklit verweisen. Ein weiteres Gedicht L’œuf philosophique findet sich in den nicht in Sammlungen enthaltenen Gedichten.

Unter Einbeziehung der theoretischen Schriften Golls und im Gesamtbild seiner Lyrik ist Knauf (1996) zu widersprechen, der hier eine »Rückkehr zum Traditionalismus« an der Verarbeitung mystischer und okkulter Themen festmacht und meint, dies sei zu verstehen als eine »Reaktion auf veränderte historisch-gesellschaftliche Bedingungen.« Vielmehr ist es so, dass Goll konsequent sein »Überrealismus«-Projekt verfolgt, nach dem »Ding an sich« sucht, welches durch das Wort Teil einer neuen Schöpfung werden soll, und zu diesem Zwecke immer mehr auf alchemistische Beziehungen und kabbalistische Techniken zurückgreift.

Traumkraut

Die Traumkraut-Gedichte bedeuten eine Zäsur in der späten Lyrik YGs, zunächst einfach deshalb, weil sie in deutscher Sprache geschrieben wurden. Goll schreibt in seinem Brief an Döblin: »Nach zwanzigjähriger Abkehr bin ich zur deutschen Sprache zurückgekehrt, mit welcher Hingabe und Lust der Erneuerung, fast klopfenden Herzens«, oder an Bollinger : »Das ist für mich ein übermütig schäumender Frühling, an dem ich klopfenden Herzens, nach mehr als zwanzigjähriger Unterbrechung, die deutsche Sprache wieder in mir erschallen lasse. Und die Gedichte, die ich in den letzten Jahren nur locker hingeschrieben, jetzt zusammenlege und abschreibe. Mir ist, als hätte ich ein Bündchen Kornranken in der Hand.« Es gibt viele Möglichkeiten einer Erklärung, weshalb YG zur deutschen Sprache zurückgekehrt ist. Wahrscheinlich ist es nicht das »Ich stand auf und ging heim in das Wort[...] von wo ich unvertreibbar bin« Hilde Domins, denn Französisch war ja für ihn eine gleichberechtigte, vielleicht sogar erste »Muttersprache«. Eher schon nähert man sich dem Phänomen, beachtet man Domins weiteren Hinweis an ganz anderer Stelle: wie großartig und vertrackt und unübersetzbar die deutschen Adjektive seien und wie sie umgedacht werden müssten ins Konkrete. In der Situation, in der sich Goll in Frankreich befand, war Deutsch wohl auch die Sprache einer anderen Realität: das Hospital, das Sterben rundherum, alles war »französisch«. Es ist möglich, dass YG, wie Carmody vermutet, diese späten Gedichte bewusst abgrenzen wollte. Wesentlich ist jedenfalls, dass im Deutschen mehr wortschöpferische Möglichkeiten bestehen, besonders in Bezug auf dichterische Verkürzung. Da sich hier Wörter direkt asyndetisch verbinden lassen (Beispiel: »Traumkraut«), – was in der französische Sprache nicht möglich ist – konstitutiert sich eine neue Einheit, die zudem dem Prinzip der Lyrik – höchstmögliche Verkürzung – am nächsten ist. Das allein könnte durchaus ein Grund sein, diese Sprache zu wählen, will man Neues ausdrücken, Ungesagtes oder anders – mit den üblichen Mitteln der Sprache oder den Worten in ihrer denotativen Bedeutung – schwer oder nicht zu Sagendes. In diesem Sinne meint wohl Pouthier, dass der Sprachwechsel in Zusammenhang mit der metaphorischen Weltverwandlung stehe, für die die deutsche Sprache geeigneter sei. Er ist aber der Meinung, dass der politische Aspekt der ausschlaggebende sei. Goll habe sich von der deutschen Sprache abgewandt, seit sie von Hitler missbraucht worden war. Dafür spricht Vieles; so schrieb YG 1939 beim Erscheinen von Centaur an Wolfgang Cordan nach Amsterdam: »Und am Erscheinungstage verwandelte sich der süße Wein der Dichtung in Essig, wurde die deutsche Sprache eine feindliche Waffe, – nicht für alle, für ganz wenige wohl, aber doch die Sprache des Feindes. Gewiss, hätte ich Exemplare zur Hand, ich würde sie verschicken, aber nicht ohne die notwendige Notiz: ›Diese Übertragungen sind in der Sprache Goethes verfasst, nicht in der Hitlers.‹« Darüber hinaus aber war das Thema Sprache für YG immer besonders wichtig gewesen, wie aus vielen seiner Äußerungen hervorgeht. Von ihm stammt auch das Wort, dass der Dichter sich in das Wort rette.

Dass die Sprache aber nicht die einzige Zäsur ist, geht aus dem weiteren Verlauf von Golls Brief an Döblin hervor: »Surrealism ist durch mich hindurchgegangen und hat seine Salze deponiert. Doch mir ist, als wäre dieses Traumkraut Pflanze einer neuen Geburt.« Diese neue Geburt meint zunächst sicher auch den Neuanfang in Europa, von dem Goll sagt: »Spät bin ich nach Europa heimgekehrt und finde viele Tore schwarz und eingestürzt. Aber durch Ihr Goldenes Tor sind wieder viele im Triumph eingezogen [...]. Um zum erstenmal wieder zur Sprache zu kommen, sende ich Ihnen dies Päckchen Gedichte.« Dennoch heißt »Zur Sprache kommen, eine neue Geburt« sicher nicht nur, in Europa anfangen und Deutsch schreiben. Es heißt, eine neue Phase der dichterischen Existenz beginnen. Diese Ansicht wird gestützt durch die Tatsache, dass Goll im erwähnten Brief an Döblin zunächst geschrieben hatte »Um zum ersten Male wieder zur deutschen Sprache zu kommen« und das Wort »deutschen« dann durchstrich.

Zur Editionsgeschichte

Die bekannte Verwirrung bezüglich YGs Werk ist bei der späten Lyrik besonders groß. Der Titel Traumkraut stammt sicher vom Autor selbst. 1949 erschienen in der von Döblin herausgegebenen Monatzeitschrift Das Goldene Tor fünf Gedichte Golls unter dem Pseudonym Tristan Thor mit dem Nachsatz »Aus dem Gedichtband Das Traumkraut«, im Heft 4/ 1949 (und posthum im Heft 5 in der gleichen Zeitschrift weitere Gedichte). Die an Hans Bollinger geschickten Sammlungen enthalten jeweils verschiedene Gedichte, weitere wurden zu Lebzeiten nicht veröffentlicht. Die letzten Gedichte und die letzten Fassungen von Traumkraut sind entstanden im Hôpital American in Neuilly bei Paris. Damit ist der gesicherte Kenntnisstand schon fast umrissen. Das genaue Entstehungsdatum ist bei vielen Gedichten gesichert, bei anderen nicht. 1965 fanden sich im Nachlass verschiedene Konvolute mit jeweils wechselnder Gedichtzahl, in Form von Typoskripten, aber auch Handschriften auf aufgerissenen benutzen Briefumschlägen, Rückseiten anderer gedruckter Texte, ferner Textvarianten und handschriftliche Verbesserungen. Die Gedichte des Zyklus Abendgesang.Neila enstanden gleichzeitig, weshalb Glauert sie zusammen mit Traumkraut als Einheit betrachtet. Nach YGs Tod hat CG alle Editionen in die Wege geleitet und mit Vorworten versehen, dabei hat sie in der bekannten Weise auch Titel verändert, Gedichte neu übersetzt und verschiedene Fassungen drucken lassen. Die »blaue Mappe« mit den letzten von Goll selbst korrigierten Fassungen der Gedichte unter dem Titel Yvan Goll. Das Traumkraut wurde nicht aufgefunden.

Im Folgenden wird die von YG noch selbst zu Lebzeiten vorgenommene Auswahl zugrundegelegt, die der Dichter am 9.2.1950 mit einem Begleitbrief an Alain Bosquet schickte, welcher die Gedichte hatte übersetzen wollen. Goll, der diese Auswahl 18 Tage vor seinem Tod vornahm, wollte offensichtlich gerade diese Gedichte als Vermächtnis hinterlassen, zumal auffällt, dass er die beiden Oden sowie Gipskopf und Raziels Gesang ausdrücklich mit aufnimmt. Bezüglich der beiden letzten Gedichte ist auch bemerkenswert, dass die Masques des Cendres ja bereits 1949 im Original französisch erschienen und von CG übersetzt worden waren, weshalb sich die Frage stellt, wieso Goll auch diese Gedichte hätte von Bosquet übersetzen lassen sollen; es ging es ihm offenbar weniger um die Übersetzung als um die Herausgabe gerade dieser Zusammenstellung. Nähere Hinweise dazu habe ich in Golls Handschriften nicht finden können. Jedenfalls hat YG die hier angesprochene Auswahl an Bosquet geschickt, damit sie unter dem Titel Das Traumkraut veröffentlicht würde, und sein Satz »›Das Traumkraut‹ sera mon seul recueil de poemes allemands« unterstreicht die große Wichtigkeit, die er gerade dieser Sammlung beimaß.

Bisher vorliegende Arbeiten zu »Traumkraut«

Verschiedene Autoren haben sich mit den Gedichten beschäftigt. Richard Exner kann man zustimmen in seiner Beurteilung, dass es sich um »perfect poems« handelt. Seine Hinzufügung »of a dying man« ist allerdings unwesentlich, und dass sie uns »speechless« zurücklassen, mag den Eindruck vermitteln wollen, den sie hinterlassen können, ist aber nicht unbedingt hilfreich, da der Literaturwissenschaftler per definitionen über ein Gedicht sprechen und nicht vor ihm verstummen soll.

Exner schreibt 1954, YG sei »der tragische Dichter« par excellence, seine Thematik sei kaum variierend immer »Liebe oder Tod«. Seine Liebeslyrik gehöre zum Besten, hier beginne im Wort, was die Kritik lyrische Alchemie nennen würde. Goll erreiche großartige Mischungen von Abstraktem und Konkretem in der Sprache. Ähnlich äußert er sich 1957 in einer neuen Arbeit, in der er auch eine Deutung der »Tochter der Tiefe« vornimmt.

1956 liest man bei F.J. Carmody: »Goll wrote his love lyrics to his wife, Claire, and her person is present in all of them«. »She is the point of return and his assurance in the face of death.« Carmody stellt die Poemes d’amour, die Chansons Malaises und dann auch Traumkraut in eine Reihe und behauptet, Traumkraut sei »a record of Golls last thoughts, down to January 50, his dominant thougth was of Claire. [...] Claire has become his total representation of reality.« Es ist wohl so, dass man da eher Claires eigene Worte sieht. Sie hatte von »zärtlichen Gedichten eines Sterbenden« gesprochen und der »Vorsorge des Mannes, der der Geliebten einen unerschöpflichen Vorrat an Gefühl hinterlassen wollte«, wie Glauert vermerkt. Carmody jedenfalls meint, YGs Werk sei »almost entirely autobiographical and circumstantial«, es entstünde aus inneren Gründen und sei »marked by precise external events«. Traumkraut sei »an unparalleled synthesis of visions of death, of madness perhaps not entirely simulated and of love set in the most distant reaches of perception.«

Der Autor begründet also einerseits richtig aus der Sprache, dass die Traumkraut-Gedichte surrealistische Gedichte sind, deutet dann aber die gesamte Sammlung biografisch-persönlich. Darin wird man ihm keinesfalls folgen können. Auch die direkte Zuordnung zum Beispiel der Häuser, Hütten und Paläste, die in den späten Gedichten oft auftauchen, zur »dominant obsession with security for love against exstinction through loss of consciousness and death« wird man so nicht stehen lassen können, ebenso wie es sich bei der direkten Übersetzung der Metapher »Asche« in »Golls expression for loss of consciousness at the point of death« um eine Übersimplifizierung handelt. Zu widersprechen ist ferner der Aussage, dass es sich um Bilder paranoischer Natur handele.

1960 bemerkt Exner in Dichtungen über Golls späteres Werk: »Ein Zug der frühen Lyrik, das Gefangensein im Jargon einer literarischen Bewegung, fällt beim späten Goll fast ganz fort.« Das hieße aber nicht, dass er dem Surrealismus verfallen sei. Man könne gerade an seiner Haltung dem Surrealismus gegenüber aufzeigen, wie »eigenwillig und von einem inneren Zentrum bestimmt seine späte Lyrik war«. Wichtige Hinweise finden sich in Bezug auf den Reim, den YG im Deutschen selten benutzt habe, während er im Französischen bis an des Dichters Lebensende anzutreffen sei. »In der deutschen Lyrik ist kaum ein einziges gereimtes Gedicht als sprachlich vollkommen geglückt anzusprechen. Im Deutschen war der Reim für Goll keine Quelle der Konzentration und der Magie, sondern lediglich ein Zugeständnis, und also solcher entlastet er die Verszeile und höhlte sie aus.« Auch wenn Exner eine romantisierende Konzeption vertritt und die späte Lyrik als »Beschwörung einer Heimat in der geliebten Frau« sieht (Pouthier), ist es jedenfalls sein Verdienst, darauf hingewiesen zu haben, dass YG sein surrealistisches Können ins Deutsche übrträgt, und zwar zum ersten Mal; denn bei Trakl, Heym und Lasker-Schüler würden sich solche sprachlichen Züge nicht finden. Auch betont Exner schon 1960, dass sich in Traumkraut die »Sprache verdichtet« und der Überrealismus »vertieft und verfremdet« habe.

K. M. Michel schreibt 1961, in Golls Werk spiegele sich der Weg von Protest zu Legende und von Parole zu Litanei. Dass der Versuch des Dichters, alle möglichen Ismen zusammenzuballen, zu einem »schizophrenen ethischen Charakter« Golls »und eigentlich automatisch zur Groteske« geführt habe, weil die alles vereinen könne, ist nur schwer nachvollziehbar. Bezüglich der Traumkraut-Gedichte vertritt dieser Autor die Auffassung, dass alle hier vereinigten Gedichte um das gleiche Thema kreisen: »die im Erlöschen des Lebens beschworene Erinnerung an Liebe und Glück, die in traumgeborenen Metaphern aufblüht, versinkt, verascht.« Im Ganzen ist Michel der Meinung, Traumkraut werde stark überschätzt, Vieles darin sei »eine reine Privatangelegenheit zwischen Yvan und Claire«. Dabei kritisiert er auch und vor allem die sprachliche Gestaltung: die Genitivmetapher sei zu einer Manie geworden.

Auch J. C. Middleton urteilt 1963, Goll sei ein Dichter gewesen, dessen »Images« schon vor Traumkraut »creations less of social than of personal vision« gewesen seien. Er meint außerdem, dass Golls »imagery« dazu neige, »allegorical and not strictly symbolic« zu sein. In den Traumkraut-Gedichten zeige sich ein »mind who has to transpose experience into images, not one whose experience flows, wholly and spontaneously, into symbols«.

V. Perkins geht 1968 gleichfalls von der nach dem Tod veröffentlichten Sammlung von 52 Gedichten aus. Sie hält diese Gedichte für eine Synthese nicht nur von YGs früherer Dichtung, sondern seines gesamten Werkes. Dabei würden autobiografische und esoterische Elemente, repräsentiert für sie »in the final tragic vision of a man and a poet on the threshold of death«, vereint. »While incorporationg such diverse elements, however, Traumkraut remains an essentially personal expression of the poets reaction to death«. Das »most significant new feature« sei gleich zu Anfang im Titel zu finden. Dieser würde bereits den ganzen Zyklus vorwegnehmen: Traum weise auf den traumhaften Aspekt der Gedichte hin, während Kraut sich auf Golls körperlichen Verfall beziehe, projiziert auf Bilder von Pflanzen und Bäumen. Seine Furcht vor »insanity« habe ihn zu »hallucinatory images of vegetative proliferation« geführt. »Such hallucinations were induced by the poet as a safeguard against their potential reality«. Dieser Gebrauch »of vegetative images to describe the symptoms of Golls illness« sei ein bemerkenswertes Phänomen in den Gedichten. Wichtiger erscheinen Perkins Hinweise auf YGs Beschäftigung mit der Zeit, wobei sie diese allerdings wieder mit dem persönliche Erleben von Krankheit verbindet: »A natural consequence of Golls reflections on his illness is his preoccupation with the concept of time and with the idea of the transcience of existence«. In den Traumkraut-Gedichten sei das Konzept Zeit mit den Bildern rund ums Wasser verbunden. Die Autorin stellt auch richtig fest, dass YG Alchemie und Kabbalismus benutzt, um Analogien zur Dichtung aufzuzeigen. Weissenburger bezeichnet Perkins Arbeit dennoch als »vollkommen unzureichend«, da sie das Spätwerk auf den Nachweis der Bildlichkeit reduziere, ohne auf deren Funktion einzugehen. Wesentlich kritikwürdiger erscheint, dass auch diese Autorin sich zu sehr auf die persönlich-biografische Situation des Dichters bezieht, dessen Person sie mit dem in den Gedichten auftretenden Ich identifiziert.

Die ebenfalls 1968 erschienene Dissertation E. Schwandts hingegen kann auch heute noch als grundlegend gelten. Der Autor schreibt: Es gibt keinen »expliziten Sinn, keine logisch eindeutige Aussage, weil das Gedicht keinem Mitteilungsschema folgt, das in einer diskursiv verfahrenden Intrepretation zur Bestätigung seiner selbst käme«. Vielmehr gelte der Fundamentalsatz der modernen Poetik, nach dem der Sinn eines Textes identisch ist mit seiner Wortform. Immer bestehe die Kluft zwischen Poesie und deutender Reflexion über Poesie, die Kluft zwischen der alogischen bildhaften Struktur der dichterischen und der logischen der begrifflichen Sprache. Daher könne man sich dem Gedicht nur beschreibend nähern. Der Autor benutzt die genetische Methode, um den Prozesscharakter der Lyrik YGs aufzuzeigen. Er betont die Wichtigkeit des Prozesses: wie bei Valery habe die schaffende Tätigkeit gegenüber dem geschaffenen Werk Vorrang gehabt. In seiner beispielhaften Analyse von Hochöfen des Schmerzes und Hiob geht er aus von den verschiedenen Fassungen eines Gedichts. Dabei arbeitet er die Grundvorstellungen der Alchemie heraus, die Feuer-, Blumen- und Aschenmetaphorik, den vegetativen und technischen Bildbereich, die nebeneinander existieren und in jeder neuen Fassung mehr entfaltet werden. »Gleichklang und Rhythmus unterstützen sich wechselseitig als die Formkräfte der von Reim und Metrum freien Verszeile. In zunehmendem Maße erweisen sie sich als strukturbildend, als wichtige Aufbauprinzipien der späten Lyrik Golls.« »Rhythmus und Melos erweisen sich als bindende Prinzipien des Gedichts, sie sind sprachlich Evidenzen einer musikalischen Grundstruktur«. Der Autor beschäftigt sich mit der Technik der paradoxen Vertauschung und eingehend mit der Genitiv – und Kontraktionsmetapher im Werk YGs. Vor allem aber betont er, dass das Gedicht keine Imitation oder Umsetzung einer außer ihm liegenden Wirklichkeit ist, dass es vielmehr um Transfiguration gehe und dass der Lyriker zwar mit den Elementen der empirischen Realität arbeite, aber durch radikale Verwandlung eine Überwirklichkeit, die Wirklichkeit der Dichtung, schaffe. Ebenso weist er darauf hin, dass sich YGs neuer Dichterbegriff in Raziel inkarniert.

Der gleiche Autor beschäftigt sich 1970 mit der »mythischen Selbstdarstellung« YGs. Die letzte Selbstdarstellung des Dichters im Hiob enthalte die poetologische Dimension. YGs Mythen seien Stationen seines dichterischen Selbstbewusstseins: der Neue Orpheus als Utopie des expressionistischen Dichters, als Menschheitserlöser, Jean sans terre als Mythos vom unbehausten Menschen, schließlich Hiob mit seiner Überwindung als Mythos vom leidenden Dichter. Illusion, Desillusion, Scheitern und Verklärung als Stadien. Was bliebe, sei die schöpferische Tätigkeit, der poetische Akt. Der Autor kommt hier zu dem Schluss, dass YGs letzte Gedichte versuchen, ihre Ästhetik in Anthropologie überzuführen, dass sie einen eigenen ontologischen Status behaupten und eine säkularisierte Religion der Kunst begründen.

Ph. Berg beschäftigt sich 1976 mit den jüdischen Themen, dabei in einem eigenen Kapitel mit Traumkraut. Sie identifiziert wieder Autor und Text und nimmt eine biografisch bezogene Interpretation vor. Die Traumkraut-Gedichte seien »die letzten Verse der Liebe und des Todes.« »Das Wissen um das unaufhaltsame Ende und die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens auf der einen und die Sehnsucht nach Erlösung von Schmerz und Tod auf der anderen Seite sind die geistigen Pole dieser Lyrik«. Diese Meinung wird nicht näher begründet. Thematik und Bildbereich seien, wie in Aschenmasken, der Mensch allein im Todeskampf und die Zersetzung des Körpers durch die Krankheit, die Auflösung alles Bestehenden. Dass die stärkere Verdichtung und Poetisierung die dauernde Arbeit an der Sprache zeige, – so seien die 38 Zeilen des Chien de ma mort im Traumkraut-Gedicht Bluthund auf 13 Zeilen reduziert – die in immer neuen Variationen das Bildmaterial vereinfacht und durchintegriert, ist eine hilfreiche Beobachtung. Berg hebt auch die Feuer- und Blumenmetaphorik hervor, verbindet sie aber wieder direkt mit der Krankheit; die Metaphern stünden für die vegetativen Wucherungen von Wunden und Geschwüren. Trotz der vielen direkten persönlichen Bezüge, die sie vornimmt, schreibt die Autorin am Ende, dass eine psychologisch-biografische Interpretation fragwürdig sei; die »Fakten« seien nur als Thematik zu verstehen, für die poetische Struktur seien sie ohne Belang. YG arbeite mit den Elementen der empirischen Realität, das Gedicht aber »objektiviert sich in seiner metaphorischen Struktur und seiner metaphorischen Sprachschicht«, die transparent darüber gelegt würde. So könne der Dichter in seinem Gebilde überleben und weiterwirken. Die Autorin sieht weiterhin eine Wendung ins Religiöse im Sinne der Überwindung des Nihilismus im Kunstwerk und hebt die Wichtigkeit des dichterischen Schöpfungsprozesses bei YG hervor.

V. Profit nennt ihre Arbeit von 1977 »Interpretation of Iwan Golls late poetry« und beschäftigt sich mit den Komplexen Hiob und Hôpital. Sie kritisiert Carmody aufgrund seiner direkten Rückschlüsse auf biografische Fakten aus dem Text und das Verwenden der Biografie zur Erklärung der Poesie. Das Problem läge darin, dass Carmody das Gedicht für eine Imitation einer Realsituation hielte, während das Gedicht mit seinen autonomen Gestaltungsprinzipien eine neue, von der Empirie unabhängige genuin poetische Wirklichkeit hervorbringe.

M. Parmée (1981) beruft sich auf die Einteilung Carmodys, der die »diversity and the autobiographical nature« in YGs Dichtung betone und diese deshalb in mehrere Phasen eingeteilt habe. Obschon sie deshalb chronologisch vorgehe, gäbe es persistierende Themen, »which transcend biographical divisions«. Die meisten Themen YGs seien schon im Frühwerk da, zum Beispiel die Zeit; Liebe inspiriere einen großen Teil seines Werks ab 1916 bis zu seinem Tode , auch bleibe der »social concern« des Dichters bestehen. »Natures richness and the value of life are unfailingly affirmed through the imagery«. Seine Themen hätten eine positive und negative Seite, eine gewisse »constant ambiguity«. »The inner duality which Goll recognizes in himself underlies his whole work«. Allerdings würden die Themen gegen Ende des Lebens immer komplexer. Von seinen immer wiederkehrenden Bildern sei eins der neuartigsten (»original«) das der Mineralien; diese würden in den okkulten Gedichten am Ende das »basic symbol for the object of the poets search for spirit in matter« darstellen. Charakteristisch sei ferner »Golls expression of a positive theme in negative imagery and vice versa.« Bilder, die man mit Schöpfung zusammenbringe, wie Sonne, Ei, Quelle seien oft kombiniert mit Tod und Zerstörung konnotierenden Bildern. Diese zwei Aspekte würden im Spätwerk immer weiter integriert, die klaren Kategorien ausgelöscht, die Poesie würde immer reicher und komplexer. Ebenso kombiniere YG oft »images of food and drink with images connoting insubstantiality«, was die Autorin dahingehend interpretiert, dass dies »the poets material poverty and spiritual richness« zeige. Sie kommt zu dem Schluss, dass »Exner surely oversimplifies«, wenn er in Bezug auf Golls Lyrik sagt, sie variiere ihre Thematik Liebe und Tod kaum«, stellt aber selbst ihr letztes Kapitel unter den Titel »The Love Poet« und ebenfalls die frühen und die späten Gedichte zusammen unter den Subtiteln »The power of love« »The pain of love« sowie »The Nature of the beloved«, wobei sie statuiert, »Golls late love poems return to his relationship with Claire. Claire is all that he has left, and the principle tone of these last poems is of companionship and consolation. [...] She protects him now that he is weaker.« Sogar die »mulitplicity, elusiveness and timelesness, expressed in nature imagery« in den letzten Gedichten bezieht sie automatisch auf die Person Claires: »The beloved is more than a woman, she becomes a magical, mythical being, an Urgestalt des Weibes, dispersed through the universe«, oder: »Frequently the beloved is seen in terms of a landscape«, wobei die direkten Zuweisungen in der Feststellung gipfeln: »The late love poems are […] not overtly sexual or even sensual, a fact probably due to Golls physical condition at the period«. Obschon die Autorin mit dem Bekenntnis endet, diese späten Gedichte seien »particularly difficult to categorize or summarize because the integration of themes and imagery is both rich and subtile«, beharrt sie nicht nur auf auf ihrer Einordnung als Liebesgedichte und statuiert »resemblances to traditional love poetry, notably in the predominant use of nature imagery and the elevation of the beloved to a higher plane of reality«, sondern verweist jedesmal auf einen bestimmten biografischen Bezug, wobei sie schließlich über die Chansons Malaises schreibt: They »represent a central figure who is a complex combination of the real Claire, the real Yvan and an ideal Yvan and Claire who need no thoughts and no other existence but love«. Um die Zeit, als Parmée das schrieb, lag der Nachlass schon vor; den Briefwechsel YG-Paula Ludwig, der erst 1993 erschien, hat sie wohl nicht gekannt. Es geht aber weniger darum; vielmehr ist dies ein gutes Beispiel, auf welch tönernen Füßen überzeugte »biografische« Interpretationen stehen, die den grundsätzlichen Fehler begehen, die Person des Autors mit dem artikulierten Ich des Textes gleichzusetzen.

Innerhalb seiner thematisch ganz anders ausgerichteten Arbeit beschäftigt sich J. Phillips 1984 unter anderem auch mit den Traumkraut-Gedichten und kommt zu folgendem Schluss: »Goll attempts, with Traumkraut, a fusion of the strenghths of Expressionism and Surrealism in a new and original medium«.

1988 schreibt P. G. Pouthier über die »Claire-Lyrik«, zu der er auch die späten Gedichte rechnet. Er kritisiert Hauck, dessen Darlegungen keinen übergreifenden Zusammenhang zeigen würden, ebenso wie Exners »romantisches Konzept.« Wichtige Hinweise gibt der Autor zur Sprache des Dichters. Bei YG erweise sich die Wortzusammensetzung als radikales Stilmittel bei der Konstruktion seiner poetischen Gegenwelt. Der im Frühwerk vorherrschende Wie-Vergleich würde vom dichteren Gestaltungsmittel der Genitivmetapher und diese von der noch radikaleren Kontraktionsmetapher abgelöst. Außerdem gebe es einen »wachsenden metapoetischen Charakter dieser Dichtung, der im Symbol der Dichterhand und der aus dem Körper des Dichters hervorbrechenden Pflanze seinen symbolischen Ausdruck erfährt«. Der Autor betont weiterhin, dass YGs Werk nicht nur jenseit der Grenzen, sondern auch jenseits der Sprachgrenze steht. Aus der Sammlung der 52 Gedichte ordnet er 29 als Liebesgedichte ein. Er betont die Prozesshaftigkeit von YGs Schreiben und weist auf die vielen Vorstudien zu Gedichten hin. Er hält YG für einen letzten Romantiker, allerdings spricht er von »entromantisierender Romantik«. Romantisch sei das, was die Dichtung ausspreche, entromantisiert, wie sie es ausspreche.« Seiner modernen Sprache zum Trotz blüht das Traumkraut in nächster Nähe zur Blauen Blume des Novalis.« Die letzten Gedichte seien personenbezogen, die »Liebe, die zur Landschaft verwandelte Geliebte und die diese Verwandlung bewirkende Dichtung« sehe er als »das einzig mögliche Refugium in einer ahasverischen Existenz.« Das thematische Spektrum enthalte außer Tod und Liebe auch die Möglichkeit des Dichtens über das den Tod überwindende Dichten. Pouthier sieht bei YG die Fragen des Dichters nach Sinn und Sinnstiftung. Liebe und Poesie würden sich dabei als »Garanten« erweisen in einer ansonsten sinnlosen Existenz.« Das kann man so sehen, solange bei »Liebe« nicht hinzugefügt wird »d.h. deren wesenhafte Verkörperung in der geliebten Lebensgefährtin Claire«. Zusammenfassend hält Pouthier die Traumkraut-Gedichte einerseits für Texte über die Liebe, – wobei es Texte für und über Claire seien – , andererseits auch für Texte über die Möglichkeit des Dichtens. »Traum« subsumiert dabei für ihn Liebe und Poesie.

Die 1999 erschienene Arbeit von Ch. Pleiner beschäftigt sich nicht expressis verbis mit den Traumkraut-Gedichten, sondern untersucht Eros und Intertextualität bei Claire und Yvan Goll. Dennoch muss sie hier erwähnt werden, weil sie am Ende auch von »späten Liebesgedichten« spricht und z.B. den »Regenpalast« als Liebesgedicht im Dialog mit CGs Gedichten auffasst: »Der Bezug zu den späten Gedichten von Claire Goll liegt hier auf der Hand.« Auch wenn gerade dies angezweifelt werden kann, ist Pleiners Fragestellung wichtig, ob sich die »Liebesgedichte« der Golls tatsächlich auf intime Bekenntnisse reduzieren lassen oder ob es sich nicht um eine Inszenierung von Liebe handelt, hinter der sich eine poetologische Dimension verbirgt. Bei der Diskussion dieser Frage geht Pleiner unter anderem aus von einem Textbegriff Kristevas, die jedes Zeichensystem als Text begreift. Dahinter stehe der Gedanke, dass Realität an sich nicht erfahrbar sei, sondern nur über sprachliche Verarbeitung der Dinge wahrgenommen werden kann; gleichzeitig betont der Autor die Verlagerung der Kreativität auch auf den Leser, der in »Analogie zum (post)modernen poeta doctus als lector doctus potentiell über die gesamte Tradition verfügt und aufgefordert ist, den intertextuellen Faden weiterzuspinnen.« Er meint, dass sich in vielen Texten YGs poetologische Elemente finden und poetologische Inhalte transportiert werden. Das Bewahren der Liebe im Text sei ein wichtiger verbindender Aspekt der gemeinsamen Lyrik der Golls, Unvergänglichkeit der Liebe sei ohne literarische Fixierung nicht möglich. Dass in den Gedichten die Fiktionalität der selbstgeschaffenen Welt reflektiert werde, das sei ein wichtiger Aspekt der Intertextualität. Im Übrigen ist Pleiner grundsätzlich der Meinung, dass die späte Lyrik in großen Teilen eine Weiterführung des Liebesdiskurses ist, wie die zahlreichen Überschneidungen dieser Sammlungen mit den gemeinsamen Gedichteditionen aus dem Nachlass deutlich machen würden.

Die Traumkraut-Gedichte

Nach seinen handschriftlichen Aufzeichnungen sandte YG am 9.2.50, 18 Tage vor seinem Tod, folgende Gedichte mit einem Begleitbrief an A. Bosquet: Sonnen-Kantate, Der Regenpalast, Tochter der Tiefe, Das Wüstenhaupt, Der Staubbaum, In den Äckern des Kampfers, Der Salzsee, Die Aschenhütte, Die Angsttänzerin, Schnee-Masken, Süd, Ode an den Zürichsee, Lothringische Ode, Raziel’s Gesang, Gipskopf, Todeshund. Aus dieser Zusammenstellung wurde folgende Auswahl vorgenommen:

Gipskopf und Todeshund werden nicht einbezogen, da sie nicht zu den ursprünglich deutschen Gedichten gehören. Sie wurden auf Französisch geschrieben und von CG übersetzt. Auch wenn das Gleiche auf Raziel’s Gesang zutrifft, wurde dieses Gedicht wegen seiner Wichtigkeit für YGs Gesamtwerk mit in die Auswahl aufgenommen. Es wurde eine eigene »wörtliche« Übersetzung vorgenommen, da die vorliegende Übersetzung von CG von wesentlichen Veränderungen geprägt ist. Nicht einbezogen wurden ferner Schnee-Masken und Die Angsttänzerin. Von beiden Gedichten liegt kein Manuskript von YG selbst vor. Auf eine gesonderte Interpretation von Tochter der Tiefe wurde ebenfalls verzichtet, verwiesen wird auf die Deutungen von Exner 1957 und 1960. Auch wenn dieser letztlich der Meinung ist, dass es sich bei Das Traumkraut um Liebesgedichte handelt und dass diese ein Versuch waren, »in einer vereinsamten Welt eine Insel des Glücks und der Geborgenheit zu schaffen«, interpretiert er das angeführte Gedicht doch im Sinne des Versuchs, Überrealität in Verse zu bannen.

Die ausgewählten Gedichte befinden sich in folgenden Konvoluten des Nachlasses im DLA: 2.e partie envoyee a Alain Bosquet. – Ferner: Bloc d’Alsace, Straßburg 1948 – 49 ( In den Äckern des Kampfers). – Blocco per note, März 1949 (Ode an den Zürichsee, Der Staubbaum, Die Sonnenkantate, Das Wüstenhaupt). - Liebessonne (Der Salzsee, Der Regenpalast, Die Aschenhütte) - Venise 1949 (Lothringische Ode). Le chant de Raziel war bereits 1949 in Paris erschienen (Elegie d’Ihpetonga suivi des Masques de Cendre).

Alle Gedichte entstanden zwischen 1948 und 1949. Eine chronologische Anordnung erschien nicht sinnvoll, da genaue Entstehungsdaten oft nicht bekannt sind und weil YG oft verschiedene Gedichte gleichzeitig schrieb und immer wieder bearbeitete. Vielmehr wird eine Einteilung in vier Gruppen nach thematischen Gesichtspunkten vorgenommen. Für alle Daten wird verwiesen auf Glauerts Bemerkungen »Zur Edition« (Glauert 1996). Wo nicht ausdrücklich anders vermerkt, beziehen sich die benutzten Fassungen auf die Ausgabe von Glauert.

Textanalyse

Der Titel ist (Burdorf 1997) der wichtigste Paratext des Gedichts. Bis in die Neuzeit hinein waren bei Gedichten nur Sammlungen mit Titeln versehen, diese bestanden meist nur aus der Gattungsbezeichnung. Hatte aber ein Gedicht einen Titel, so konnte man schon seit dem Barock zwei Grundformen unterscheiden: er bezeichnete entweder das Thema und den Gegenstand des Gedichts oder er bezog sich reflexiv auf das Gedicht selbst.

Das Traumkraut ist zunächst eine Wortschöpfung, die in ihrer Konzentration ein breites Konnotationsfeld eröffnet. »Traum« verweist auf Schlaf, die Unwirklichkeit, den von Göttern gesandten, numinosen Traum ebenso wie den nachnuminosen; den Wunschtraum, den Traum, der in Erfüllung gehen kann, den Wachtraum, das Gegenteil von Konzentration, etwas Fließendes. »Kraut« stammt aus dem vegetativen Bereich, bezeichnet eine Pflanze, eher keine kultivierte, sondern eine wildwachsende, auch mit dem Hang zum Überwuchern. Man denkt hier an die wuchernde Fantasie, an etwas Üppiges, »ins Kraut Schießendes.« Dabei kann ein Kraut magische Eigenschaften haben; Hexen und Zauberer in den Märchen verwandten ein »Kräutlein«, ein verwandelndes oder auch heilendes. Die Konnotation zu Drogen liegt ebenfalls auf der Hand, besonders in der Kombination mit Traum. Ein Kraut also, welches zu Träumen, zu virtuellen Erlebnissen führt? Oder eins, das aus Träumen entsteht, aus Visionen? Eins, welches als Arzneimittel verwendet wird und Wunden heilt? Es wird zu zeigen sein, dass dieses weite Feld durchaus im Ganzen angesprochen ist.

Gruppe 1: Süd und In den Äckern des Kampfers

Von dem Gedicht Süd liegen ein Manuskript und ein Typoskript von YG vor, Ersteres schwer leserlich, das Zweite mit Textvarianten. Das Gedicht ist nach Golls Tagebuch auf den 18.12.48. datiert. »Südwind rüttelt an meinen Wirbeln,« wodurch »eine Tür in meiner Brust« aufspringt, sagt ein Ich, welches dann den »Süd« direkt anspricht. Es scheint mehrere Türen zu geben, und das Ich fragt sich, welche die sei, »durch die ich mir entflieh.« Sein Wunsch ist einer: die »Eiszeit meines Herzens« soll erlöst werden. Das kann der »Südatem sommerlichen Meers« erreichen. Der Südwind wird personifiziert, als »brüderlich« angesprochen. Er soll den »Intellekt« wegwischen von der Stirn und »die Gletscher der Vernunft von meinem Schmerzgebirge schmelzen« lassen.

Das Gedicht ist einfach strukturiert und zeigt kaum sprachliche Experimente, die Syntax ist klar, die Sätze sind vollständig. Vielleicht ist dies der Grund, dass es auch inhaltlich so klar zu sein scheint. Die Wortschöpfung »Schmerzgebirge«, die einen sehr großen, lastenden, schwer zu überwindenden Schmerz in ein Wort bannt, wird so leicht – zu leicht – mit der Krankheit des Autors und persönlichem Erleben von Schmerz im Krankenhaus zusammengebracht. Abgesehen davon, dass man nicht die Person des Autors mit dem im Text sprechenden Ich identifizieren darf: handelt es sich hier nicht überhaupt um etwas ganz Anderes? Ist es nicht vielmehr der alte Konflikt zwischen Ratio und Gefühl, der hier aufscheint? Die Kluft zwischen der winterlichen Kälte der Vernunft und der sommerlichen Wärme der Empfindung? Der Graben zwischen der positivistischen technisch dominierten Welt und dem »Blau«, dem »Südwort« Gottfried Benns, woran der »Südatem« sofort denken lässt? Dafür spricht das Meiste. Die Gletscher der Vernunft stehen gegen das Herz, sie haben das Gebirge in ein Schmerzgebirge verwandelt und dem Herzen die Eiszeit auferlegt. Viele Türen sind in der Brust des Menschen, durch eine kann er sich selbst entfliehen, seinem auf ihm lastenden Intellekt. Die Lösung kann Droge heißen, aber auch locus amoenus, Paradiesgärtlein, Arkadien. Hier heißt sie »Südatem sommerlichen Meers«. Bei Benn bestand am Anfang noch die Möglichkeit der Regression, bei Goll scheint hier bereits das Überschreiten der Alltagswirklichkeit auf. Sprachlich eindrucksvoll sind in diesem Gedicht die hohe Zahl von Assonanzen, wobei zusätzlich eine musikalische Qualität durch die Wahl bestimmter Laute (s und sch) erreicht wird, die auf den Wind verweisen. Das Gedicht ist in freien Rhythmen abgefasst, verwendet keinen Endreim und benutzt keine überlieferte Form. Dennoch erinnert es von fern an ein Sonett, wobei die abgesetzten zwei Zeilen nach den ersten zwei Quartetten die Aussage zusammenfassen: es geht um Erlösung, und zwar von einer Zeit, der Eiszeit des Herzens. Genau diese zwei Zeilen fehlen in der Fassung des Sammelbandes »Dichtungen«, die 1960 von CG herausgegeben wurde.

Zu In den Äckern des Kampfers existiert ein Manuskript von YG. Auch hier scheint der Bezug auf die Wirklichkeit von Krankheit oberflächlich klar zu sein. Das Ich spricht ein Du an, welches sich im Lauf den Textes als das Selbst erweist. Es wird aber bereits eine Gegenwelt evoziert durch Feststellungen, die im Zusammenhang mit einer – wenn auch dichterisch umschriebenen, so doch als »realistisch« wahrnehmbaren – Beschreibung (Äckern des Kampfers, Sümpfe des Jods) nur als paradox zu bezeichnen sind: Das Ich trinkt sich »endlich jung« und wird »besser genährt«, aber es handelt sich um das »Fest der Verwesung«? Eine Auflösung ist zu finden in der dritten Strophe: nur alle tausend Jahre einmal blüht die »gelbe adlige Blume«, die sich »langsam aus deinem Brustkorb« windet, und »im südöstlichen Schädel zittert ein neuer Stern«. So geht es hier wie im vorigen Text um etwas ganz Anderes als Selbstbezug im Allgemeinen oder Bezug auf die persönliche Krankheit im Besonderen, wie zum Beispiel von Perkins gelesen, die, von einem »use of vegetative images to describe the symptoms of Goll’s illness« spricht. Es geht wie im ersten Gedicht wieder um das »Süd« als Chiffre einer anderen Welt, gleichzeitig wird aber hier bereits auf das Feld des Kreativen, der Dichtung verwiesen. Aus dem Verwesenden, Überwundenen entwickelt sich langsam die Blume, die adlig ist, ein neuer Stern, die Blume der Romantik, der Überwelt, der Dichtung.

In den Gedichten der ersten Gruppe wird also ein Ich in der Realität evoziert im alten Konflikt zwischen Ratio und Gefühl, Geistigem und Körperlichem, beladen mit Geschichte und eigener Vergangenheit sowie schmerzhafter Gegenwart, gefangen in der Zeit, welches eine Lösung zum Heraustreten aus dieser Wirklichkeit sucht, wobei diese in der Kunst, der schöpferischen Dichtung, aufscheint.

Gruppe 2: Ode an den Zürichsee und Lothringische Ode

In beiden Fällen liegt die Grundform der alkäischen Ode vor. Das Odenmaß hatte schon Horaz erhabenen Gegenständen vorbehalten, Hölderlin benutzte es weitgehend; mit seinen Oden wurde erreicht, »dass im Silbenmaß an und für sich schon ein bestimmter Ausdruck vorgegeben ist« (Beißner 1965).

Auf Klopstock geht die heute im Deutschen noch geltende Auffassung von der Erhabenheit der Ode zurück. Während sie im Englischen nicht formal definiert war und eine Form eher ad hoc gewählt wurde, führte Ronsard die formgebundene horazische und pindarische Ode in die französische Dichtung ein. In Deutschland trat sie in der bekannten klassischen Form zuerst im Humanismus in lateinischer Sprache auf, (Libri odarum quatuor 1513), später mit Weckherlins Oden und Gesängen 1618 in deutscher. Vom Lied unterschied sie sich (Braak 1969) durch Stilhöhe und strengere Form, Größe und Würde der ergriffenenen Themen. Die Ode bedeutet den Übergang zum freirythmischen Gebilde (Schödlbauer 1982). In diesem überdauerte sie am ehesten in Form der Klage.

Die Ode an den Zürichsee ruft mit ihrem Titel zunächst die Erinnerung an Klopstocks Ode Der Zürcher See hervor, die allerdings in der asklepiadischen Form geschrieben wurde. Dort folgen nach den ersten Strophen der Evozierung von Erinnerung an eine Bootsfahrt die Thematisierung der Unsterblichkeit und ihr Rückbezug auf Liebe und Poesie. Da YG bewusst diesen Titel wählt, wird man seine Ode als ein Palimpsest betrachten müssen. Der Begriff wird benutzt nach Genette, wo »Transformation« als eine Erscheinungsform der Hypertextualität aufgefasst wird: Behandlung des gleichen Themas auf andere Weise. (Genette 1993).

Klopstock beginnt mit einem Freudengesang an die Natur; alles steht im Zeichen der Glückserfahrung, wobei in diesen Freudenstunden die Zeit stillsteht und ein Leben jenseits der Vergänglichkeit existiert. Diese vorübergehende Ahnung von Unsterblichkeit kann nun in der Poesie auf eine höhere Ebene gehoben werden; das Gedicht versucht, die flüchtige Erfahrung des Glücks dauerhaft zu machen. Demgegenüber kann man aus YGs Ode keine mit Freude zu verbindenden Teile destillieren. »WEH« wird dem Menschen zugerufen in der passenden Odenform der Klage, dem Menschen, der alles erleidet und nichts überblickt von alledem, was offensichtlich schon lange bekannt, ja, beschlossen ist, durch andere Mächte. »Beschworen im Schriftsatz der Gletscher« steht längst alles, das »uralte Urteil«, welches gefällt ist von Anfang an. Wissend sind nicht die Menschen, eher die alten Mythen, wie verkündet auf antiken Harfen. Nicht nur beschlossen ist es, sondern auch eingeschrieben, durch die Magie, durch okkultes und hermetisches Wissen, («Gelb strahlt ein abergläubisches Omega«), in der »Vogelschrift«, aber die Menschen können die Hieroglyphen nicht entziffern. Es sieht so aus, als ob die Geschichte der Menschheit nur vorbeihuscht; besonders da, wo es um die Sprache geht, gibt es aber ein Fragezeichen. Nichts scheint zu bleiben, auch die Schwäne selbst, die offensichtlich ihren »Schwanengesang« angestimmt haben, sterben. Hier wird man auch den bekannten Topos »Schwan = Dichter« erkennen. Am Ende hört man nur die »irrgewordne Stadt« heiser schreien. Das gelb strahlende abergläubische Omega ist nichts von außen Aufgepfropftes, im Menschen selbst befindet es sich, in seiner »übermüdeten Menschenstirn«. Irgendwo aber gibt es einen Quell, der klagt; er wird zu einer blauen Quelle, blau, das Wort der romantischen Sehnsucht. Es gibt eine Zukunft, aber offensichtlich sind besondere Qualitäten dazu nötig, sie zu ahnen: Kinder besitzen diese. Sie hören nicht die Quelle rauschen, sie »hören« synästhetisch die »blaue Quelle.« Das ist eine semantische Grenzüberschreitung. Der Text geht also im Gegensatz zu Klopstocks Evozierung von Freude und Einheit mit der Natur aus von der Zerrissenheit und dem Leiden an der Wirklichkeit der Moderne und erscheint so anfänglich wie eine Kontrafaktur, letztlich geht es aber doch um das Gleiche wie bei Klopstock: um Zukunft und damit das Verschieben vom Flüchtigen zum Dauerhaften.

Von dieser Ode gibt es eine andere Version, zuerst erschienen in »Hortulus« 1958, die in freien Rhythmen abgefasst ist, und die auch in der »Magica«- Edition übernommen wurde, mit einer Änderung in der vorletzten Strophe. Nach den Angaben in »Hortulus« entstand diese Fassung am 21.10.1949, die zweite hier zugrundegelegte am 23.10. Der Kommentar zur Veröffentlichung sagt wenig über das Gedicht und viel über editorische Praktiken aus: »Die Ode entstand im Herbst 1949[...]in Zürich. Von den zwei erhaltenen Fassungen vom 21. und 23. Oktober 1949 wählten wir die erste frischere ( die zweite stellt den Versuch einer Annäherung an antike Odenstrophen dar), übernahmen aber eine Zeile aus der zweiten Fassung.« Das »frischere« soll hier nicht kommentiert werden, steht es doch einfach für die persönliche Ansicht der für ihre Zeitschrift verantwortlichen Herausgeber. Dass aber ohne Angabe von Gründen Zeilen aus anderen Fassungen übernommen werden, ist ein Beispiel dafür, dass offensichtlich selbst bei Herausgebern von Literaturzeitschriften die Meinung herrscht, Textgenauigkeit sei nicht so wesentlich und an Gedichten dürften »Verbesserungen« je nach Ansicht des jeweiligen Mitarbeiters vorgenommen werden. Das erinnert an die Praktiken CGs, die als Kriterium das Befragen der Büste ihres toten Mannes angab und der Meinung war, das Fordern von Textgenauigkeit sei Ausdruck einer kleinlichen Kritik von deutscher Seite. (» Niemand wird in Paris beckmessern, wenn durch absichtliche Änderungen oder sogar Weglassungen die Texte des Dichters an Schönheit gewinnen«. CG in Wiedemann.) Festzuhalten ist, dass YG offensichtlich die erste Fassung als Entwurf betrachtet hat, den er dann verwarf, um die zweite in der strengeren Form zu schaffen, wobei er das genaue Maß der alkäischen Ode nur an wenigen Stellen verlässt, besonders auffällig im letzten Vers: »Quelle hinterm Haus«, welcher in die Zukunft verweist. Dass die Menschensprache an Joyces Grab zu verwehen scheint, ist ein Teil der Endzeit, der Endzeit der Sprache, wobei sich aber auch wieder der Kreis zur Antike schließt, hielt YG Joyce doch für den »Homer unserer Zeit«, den »größten Dichter.«

Die Lothringische Ode benutzt die gleiche Form. Sie hat besondere Bedeutung, da sie vielleicht eins der letzten Gedichte YGs überhaupt ist, beendet nach Tagebucheintragung YGs am 7.2.1950. Man denkt zunächst an sein früheres Gedicht, das Lothringische Kreuz von 1940, mit dem direkten Bezug auf den Krieg, der das »Herz Frankreichs, Frankreich meines Herzens« verwandelte, indem er zum Beispiel »Ährenfelder« zu »Felder{n} der Ehre« verkehrte. Die Lothringische Ode ist viel komplizierter, auch wenn sie sich sprachlich wieder in gewohnter Syntax mit ganzen Sätzen darstellt. In den ersten drei Strophen wird der lokale Bezug des Titels verstärkt und ein historischer hergestellt: der »worteträchtige« -in dieser Kontraktion wird in kürzest möglicher Form des Dichters Angefülltsein von Worten benannt- Auson ritt früh durch diesen eichenborstigen Stachelwald. Er trank den grauen eisernen Wein von Scy, der lothringischen französischen Gemeinde, die bis ins 18. Jahrhundert zun Deutschen Reich gehörte, und besang alles, »der Abendwunden zähes Tomatenrot, der Römer durchsichtigen Kirschschnaps oder die schweflige Zwetschenlava«. In der vierten Strophe findet der inhaltliche Umschlag statt. »So fand ich sein verschollenes Instrument«. Der Dichter stellt sich in die Reihe der Sänger seit der Antike. Auch die Melodien sind ewig, »zeitenvergessen«, ein Jahrtausend wird zu Tagen. Was aber ist mit den Inhalten? »Des Auerochsen magisches Dreieck äugt nach meines Schicksals heutigem Hungerruf«. Die Inhalte sind wieder magisch, hermetisch, letztlich nicht darstellbar und nicht auflösbar. Wieder wird eine Endzeitatmosphäre evoziert, eine Phase des Ausgeliefertseins, des Nichtverstehens und der Nichterklärbarkeit. Ein Kohletrüffel schwillt unterm blassen Gras, Giftpilze schwanger mit Arsenik mästen den Schierling und brennen Bläuling; jedes Wort trägt Angst und Entsetzen. Es geht nur noch um Vernichtung, in die gefräßigen Öfen stürzt alles, nicht mehr nur Vereinzeltes, (wie einst des Ebers Herz), sondern des Berges Herz, so lange bis die endgültige Zerstörung eintritt, in Pompey, das mit Pompeji auch durch das sprachliche Assoziieren zusammenfällt. Totalzerstörung wird hier gemalt in Worten, man sieht reflexartig die Bilder bombardierter Städte, und »gefräßige Öfen« kann zumindest in Deutschland wohl niemals mehr ohne den Gedanken »Auschwitz« rezipiert werden. Es geht also um Auslöschung, Vernichtung, Niedergang, Endzeit, die Hölle des Krieges und der Katastrophen, das Unsagbare der Vernichtungslager. Wie am Anfang des Gedichts für den großen geschichtlichen Rahmen braucht der Dichter auch hierfür wieder drei Strophen. Dann beginnt das Aufatmen: es gibt noch eine andere Welt. Auch wenn der Sänger nur ein mageres Schilf gegen alles zu setzen hat, dieses Andere lässt der Frühlinge [...] Fahnen wehn. Zwar können diese vergeblich sein, aber die Ode reift in jährlichen Grenzen weiter, auch wenn der Dichter längst tot ist, sein Knochen dorrt. Mag die Mosel eine Totenbrücke haben, darunter zeigt sie den Dauerwandel.

Sprachlich sind bei beiden Oden außer der alkäischen Form mit der ihr entsprechenden Wahl einer »hohen« Sprache vor allem die vielen Kontraktionen zu erwähnen, wobei bekannte Wortbildungen (z.B. Giftpilze) neben vielen Neubildungen stehen (wie Stachelwald, Todeslachen, Abendwunden, Moselhaar, Hungerruf, Hörgedächtnis, Spiegelgrund, Totenbrücke in der Lothringischen Ode, Staubhand, Rebenrotrunde, Vogelschrift, Mövenhandschuh, in der Ode an den Zürichsee. In der Lothringischen Ode fallen darüber hinaus auch Adjektivkontraktionen auf: worteträchtig, bitterstark, eichenborstig, glutberauscht, grüngeflochten. All diese Wortbildungen verstärken noch den Eindruck der »hohen« Sprache, vor allem aber wird eine ungeheure Dichte des Ausdrucks erreicht. Assonanzen und Alliterationen werden häufig benutzt, was die musikalische Qualität verstärkt, wobei auch Synästhesien eingesetzt oder hervorgerufen werden (zähes Tomatenrot, bitterstarke Wolfsmilch.)

Zwei Oden also liegen hier vor, die hochkonzentriert und auf die kürzest mögliche Weise Vergangenheit und Gegenwart, Leben und Welt umreißen, das Geworfensein des Menschen und sein Ausgesetztsein in der Zeit, sein Ausgeliefertsein gegenüber magischen höheren Mächten thematisieren, sein Unvermögen allen Gewalten gegenüber zeigen, sich dabei aber einordnen in mindestens drei wesentliche Reihen: einmal die der Antike durch das alkäische Odenmaß, zum Anderen die der Empfindsamkeit durch die unmittelbare Anlehnung an Klopstock, schließlich in die Reihe der poetischen Schöpfungen, wobei durch das Arbeitsprodukt des Dichters, das Gedicht, Zukunft möglich wird. So wird der Bogen geschlagen von dem antiken Sänger, dessen Instrument der neuzeitliche Dichter findet, wieder bis zu Klopstock und darüber hinaus, denn genau wie bei Klopstock geht es um das Festhalten von Flüchtigkeit im Dauerwandel, die Quelle wird von Kindern gehört, die Ode reift weiter. Exegi monumentum aere perennius, schreibt Horaz. YG stellt sich in diesen Gedichten in die direkte Nachfolge aller Dichter. Diese wollen eine bleibende Welt schaffen, auch wenn rundherum alles bedroht ist und vernichtet wird, und sie tun es durch eine Sprache, in der »Fülle durch Reduktion« (Schödlbauer 1994) erreicht ist. Gerade Klopstock hatte das in seinen dichtungstheoretischen Schriften formuliert: »Die Sprache hat also, für den Poeten, weniger Wörter: der erste Unterschied der Poesie und Prosa«.

Gruppe 3: Salzsee, Wüstenhaupt, Regenpalast, Aschenhütte, Staubbaum, Sonnenkantate

Diese sechs Gedichte benutzen bereits im Titel die Methode der Kontraktion von Substantiven als Methode des kürzesten Zusammenbringens von in der Realität nicht zusammengehörenden Teilen, wodurch schon in den Titeln durch die Neukonstruktion von Begriffen eine andere Welt aufscheint.

Das Wüstenhaupt

Das Gedicht stammt aus dem Konvolut »Blocco per note« vom März 1949. Es liegt ein Manuskript von YG vor mit handschriftlichen Korrekturen. »Wüste« evoziert zunächst Leere, Ausgeliefertsein, die Grenze dessen, was Menschen ertragen können. Gläubige setzten sich dort aus, Eremiten, unter diesen Bedingungen sind Halluzinationen leicht. Man denkt vielleicht an die »Wüstennot« und das »Gobigraun« Benns. Das Gedicht spricht ein DU an. Es ist aus der hier zugrundegelegten Fassung nicht ersichtlich, dass es sich um ein weibliches DU handelt. In einer anderen Fassung, die im Limesverlag 1982 veröffentlicht wurde, sind Änderungen vorgenommen, die sinnverschiebend sind, ist hier doch plötzlich die Rede von dem SeherINNENauge: die Zeile »Die Augen seherisch über die Zeit hinweg« ist ersetzt durch »Dein Seherinnenauge die Zeit überstrahlend«; ferner ist in der Zeile »Ich glaubte deinen Namen für immer geborgen« »Name« durch »Herz« ersetzt. Man muss also davon ausgehen, dass CG auch hier diese Änderungen vornahm, um das Gedicht im Sinne ihrer Vor-Interpretation zu gestalten. Das ganze Bändchen ist wieder ein Beispiel für die Problematik der Ausgaben des Werks von YG. Es ist 1982 gedruckt und verwendet ein Vorwort von Claire Goll ohne weitere Datenangaben. CG ist aber 1977 gestorben. – Diese Fassung des Wüstenhaupts wurde als eins der Traumkraut-Gedichte auch veröffentlicht in der Gedichtausgabe des Magica-Verlages von 1968 zusammen mit zwei früheren Fassungen, die dort als zu Abendgesang.Neila zugehörig bezeichnet werden.

Das Ich befindet sich in der »Wüste des täglichen Todes« und hat sich ein »Haupt« darüber gebaut. »Haupt« lässt unmittelbar an etwas Herrschendes, Höheres, oder auch Anzubetendes denken. Dieser Eindruck wird noch verstärkt in den folgenden Zeilen: beim Bau waren »zahllose Sklaven« beschäftigt, aber auch die »berühmtesten Juweliere«, die Materialien waren die kostbarsten denkbaren wie Kristall. Dass sie genommen wurden aus »dem Blut des Sonnenaufgangs« und dem »Goldstaub der Sterne«, verstärkt den Eindruck des Höheren, Jenseitigen, öffnet aber auch Bezüge zur alchemistischen Schöpfung, dass die Maurer »auf Regenleitern« in die Augen stiegen, zum Transrealen. Aus diesem Haupt, genauer aus dem »Granit deines geschwellten Mundes der wahr – und irrsprach« stieg bald »die Zauberlehre von vielen Völkern« auf, ein direkter Bezug zum Seher und Schamanen. In diesem ersten Teil des Gedichts wird also, um der Wüste des täglichen Todes zu entgehen, die offensichtlich die Realität des Ich darstellt, eine visionäre Landschaft evoziert, in die die Gestirne einbezogen sind und in der sich das Ich ein Haupt baut, bei welchem man vielleicht an die ägyptische Sphinx denkt, aber auch an die kostbaren Königsstatuen und Totenmasken, wofür auch der Kohol spricht, welcher in Ägypten dazu benutzt wurde, die Augenlider zu färben. Das Ich baut also eine monumentale Skulptur, ausgestattet mit allen Mitteln der Überlieferung, der Vision und des Traums, welches die Funktion des Sehers übernimmt, aber auch des Schamanen, dessen Irrsprechen erst übersetzt werden müsste, damit die Zauberlehre verständlich würde.

Das Ich sieht das vollendete Haupt und glaubt an die Verewigung des Namens des angesprochenen Du: »für immer geborgen in der tiefsten Wohnung der Wüste – Die Augen seherisch über die Zeit hinweg.« Doch es muss die Erblindung des Hauptes erleben. Blindheit wird seit der Antike komplex behandelt. Bei Sophokles ist der sehende Ödipus z.B. blind für die Wahrheit, der blinde Teiresias sehend. Nahe liegt hier auch die Assoziation Dichter – Seher. Hier findet die Zerstörung statt nicht einmal durch große Gewalten, sondern »von den leichten Nebeln der Geister.« Die ganze Figur fällt der Verwitterung anheim, einfach durch den Wind, das Haupt entschwebt und der »sterbenden Lippen Gesang Verschallt in blauem Gewebe des Mondes«. Dass dies so ist, wird nicht direkt als eigene Wahrnehmung des Ichs beschrieben, sondern indirekt dadurch, dass die Karawanen, die »mit ihren Staubkamelen« kamen, von alledem nichts bemerkten. Aus diesem Text geht nicht hervor, wie Carmody meint, dass »Yvan tells how he built another durable construction in the form of a statue of Claire.« Auch kann man aus ihm nicht herauslesen, wie Perkins es tut, dass »Claire« als eine riesige Statue verewigt werde.. Vielmehr geht es um das Schaffenwollen von etwas Dauerhaftem, welches aber noch nicht gelingt. Das Formen der Materie selbst, das Behauen des Steins, das Schaffen einer Skulptur reicht nicht, Materielles kann jederzeit vergehen. Kaum Gewalten sind dazu nötig, der normale Verwitterungsprozess ist ausreichend. Ein Name kann so nicht für immer geborgen werden. Besonders diese Stelle zeigt, dass mit dem Du gar nicht eine menschliche Person angesprochen ist. Der »Name« verweist vielmehr auf das Benennen, welches die Dinge erst erschafft, auf den Seher – Dichter, der benennt und das Suchen nach dem Namen Gottes, von dem YG im Manifest des Reismus sagt, wer Ihn benenne, der kenne Ihn. Auf die andere Welt weisen auch wieder die »Staubkamele« hin, sie gehören in die Staubwelt wie die Staubhand aus der Ode an den Zürichsee.

Die Sonnen-Kantate

Auch dieses Gedicht stammt aus »Blocco per note«, vom 27.-28.3.1949. Es existiert ein Typoscript YGs mit handschriftlichen Hinweisen. Wieder spricht ein Ich, welches sich aber nicht unmittelbar an ein anderes Du wendet, es wird keine andere Person evoziert. Die Ansprache richtet sich vielmehr an einzelne im Gedicht vorkommende Begriffe, die dadurch personifiziert werden: die Frucht, die Sonne, der Eisvogel. Besonders unauflösbar erscheint die vierte Strophe, wo einerseits »das runde gebackene Brotlaib« direkt angesprochen wird, andererseits ein »Du« eben dieses zum Mahle schneidet. Diese vierte Strophe, ebenso wie auch die achte, ist in »Dichtungen« (Hrsg. CG 1960) weggelassen worden.

Der Titel erinnert an den Sonnengesang des Franziskus von Assisi, auch den Aton – Hymnus des Echnaton, die YG wahrscheinlich beide gekannt hat. Eine unmittelbare Beziehung ist wohl nicht zu konstruieren, wird doch in den beiden erwähnten Gesängen Gott direkt angesprochen. Näher liegt der Prolog im Himmel aus Goethes »Faust«, wo im Gesang der drei Erzengel der ewige Sphärenlauf, die Paradieseshelle ebenso wie die tiefe schauervolle Nacht im Wettgesang der tönenden Sonne aufscheinen. Das wirkliche Thema der unwirklichen Szene, in der ein Gott wohl asiatischer Herkunft (siebenarmig) tanzt »für uns« (und nicht die Menschen für ihn), ist wieder die Zeit: eine Zeit, die hier jeder Vorstellung innerhalb unserer Wirklichkeit entzogen wird: die Sonnen sind noch ungeboren und schon verbraucht, eine Zeit, die »sich verdenkt und vergisst,« die der »Eisvogel« ist »im Sonnengedächtnis«, die, so personifiziert, angerufen werden kann von dem am Anfang ganz unwissenden Ich, dem mit den unwissenden Händen. Dieses Gedicht ist eins der verschlüsseltsten, hermetischsten im Sinne einer stärkeren Chiffrierung der dichterischen Aussage. Es benutzt die Genitivmetapher (Blume des Irrsinns, Zahnrad der Ungeduld, Zeit des Sturzbachs und des faulen Teiches) und zusammengesetzte Substantive (Lichtpauke, Meeresharfe, Frühgestirn, Schädelspalte, Samengift, Sonnenkopf, Sonnengedächtnis, Sturzbach) im Versuch, in der Realität nicht Sichtbares sichtbar zu machen, Sagbares zu formen, wieder auf kürzestmögliche Weise und oft mit synästhetischer Qualität (Lichtpauke!). In der letzten Strophe wird das »Herz« wieder genannt, welches seit Jahrtausenden verschüttet sei. Der Eisvogel Zeit soll es »singen«. Der Bezug zum Sänger ist zumindest angedeutet; Denken an Nietzsches Seele, die hätte singen sollen, drängt sich auf. Auch die zwei Enjambements (»Zeit« in Strophe neun und »Sing« in Strophe zehn) heben die beiden grundlegenden Themen, Zeit und Gesang, hervor. Eine »Blume« soll blühen, »aus jeder Schädelspalte.« Wieder eine Blume, die aus dem Körper herauswächst, dieses Mal »des Irrsinns« – auch dies eine Erweiterung, Irrsinn als Überrealisierung von »Sinn«. Es geht also wieder um Zeit und um Dichtung. Jenseits dieser Einordnung glaube ich aber , dass sich besonders bei diesem Gedicht verbietet, bestimmten poetischen Chiffren jeweils bestimmte Bedeutungen zuzuweisen. Für Lyrik ist »unsagbar« Genanntes sagbar. »Wer es als Sagbares will, muss es in der Lyrik und nicht im Sprechen über sie aufsuchen«, wie Schödlbauer 1994 formulierte. Hermetische Kunst kann sich auch gegen Vereinnahmung sperren (Adorno). Das Gedicht wirkt »gerade in der Verhüllung auf eine Weise, die jenseits philologischer Betrachtung liegt,« wie Killy einmal in Bezug auf ein Trakl-Gedicht schrieb.

Der Salzsee

Von diesem undatierten Gedicht liegen zwei Manuskripte YGs mit Textkorrekturen vor, eins davon im Konvolut »Die Liebessonne.« Ein Ich spricht zu einem Du, und dieses Mal werden beide von vornherein als ganz verschieden charakterisiert: »Du gehst im Glitzerschnee der Verheißung, Mir sind gelegt die Schienen der dunklen Vernunft.« In einer Nacht im Winter wird die »gesuchte Traumstadt« gesehen, die für beide erbaut ist, in der sie aber dennoch nicht bleiben können. Die Unwirklichkeit der Stadt ist charakterisiert durch die Materialien, aus der sie erbaut ist: obschon die Häuser nur mit Kreide gezeichnet sind, haben sie bleigegossene Türen. Am Salzsee angekommen, muss das Ich die ganze Nacht mit nackten Händen kämpfen, gegen die »langeschnäbelten Eisvögel.« Am Ende dienen deren warme Daunen dem artikulierten Ich und Du als Lager.

Auch in diesem Text gibt es Kontraktionsmetaphern neben den anderen zusammengesetzen Substantiven: Wintertier, Traumstadt, Glitzerschnee, aber auch Salzsee, Eisvögel, Fliederbusch. Der Eisvogel taucht wieder auf, so wie in der »Sonnenkantate«. Bei jemand, der die Worte so wägt wie YG, ist es nicht möglich, an einen Zufall zu denken. Bei dieses Dichters prozesshaftem und zusammenhängendem Schreiben wäre daraus zu schließen, dass der Eisvogel die Zeit verkörpert. Auch in diesem Text gibt es keinen Hinweis darauf, dass das »Du« weiblich ist. Vielmehr sind die zwei den Menschen charakterisierenden Eigenschaften (Verstand und Gefühl), aber auch die wesentlichen gegensätzlichen Möglichkeiten, die Welt zu sehen, genau wie bei »Süd« bereits angesprochen, jetzt in Ich und Du personifiziert: das Ich vertritt die Ratio, den Positivismus, das Du bewegt sich im anderen Bereich des Gefühls und des Glaubens. Dabei kann »Ich« und »Du« durchaus auch für das Gespaltensein des Selbst stehen, die »zwei Seelen, ach« in unserer Brust. Ein weiterer Aspekt ist hier auch die Polarität der Geschlechter als ein Uraspekt schon seit den alten Mythen: das Ich und Du im androgynen Selbst. Dieses Konzept spielte in okkulten Traditionen eine große Rolle. Dass YG diese Thematik besonders beschäftigte, ist spätestens im Briefwechsel mit Paula Ludwig deutlich geworden.

Für beide gibt es keine fertige Traumstadt. Auch wenn diese direkt für sie erbaut scheint, müssen sie weitergehen durch die Zeit; diese allein ist ihr Problem, und gegen diese müssen sie kämpfen, so lange, bis die Eisvögel tot sind, bis die Zeit also endet; erst dann können sie sich endlich niederlegen, aber auf dem Totenlager. Die Ansicht Müllers, dass dieses Gedicht ein »besonders schönes Liebesegedicht ist«, kann nicht geteilt werden, vor allem nicht seine direkte Zuordnung von Metaphern.(»Die Grundmetapher ist das Salz. Zu Beginn meint es die Zauberkraft der Geliebten«. Nicht geteilt werden kann ebenso Perkins Sicht, die auch dieses Gedicht auf die persönliche Biografie des Autors bezieht und als gegeben ansieht, dass »Claire and Yvan« hier dargestellt werden »as arriving at their destination.« Sprachlich sind wiederum hervorzuheben die starke lyrische Verkürzung durch die bereits erwähnten Kontraktionsmetaphern und zusammengesetzten Substantive sowie Adjektive (bleigegossen, langgeschnäbelt,) und die Assonanzen: Nägel, Särge, langgeschnäbelt, Hände). Im Übrigen ist auch hier die grammatische Struktur nicht angetastet, Satzzeichen werden allerdings nicht verwendet. Dass Genitivmetaphern, – charakteristisches Element des Stils YGs schon seit den 20er Jahren, wobei ein konkreter Bildbereich mit abstrakten Begriffsfeldern gleichgesetzt und verschränkt wird (Schaefer 1965) – ausschließlich bei der Charakterisierung der beiden entgegengesetzten Einstellungen zur Welt benutzt werden, (Glitzerschnee der Verheißung – Schienen der dunklen Vernunft«) ist kein Zufall, sondern als ein Fingerzeig auf das Wesentliche der Aussage zu werten: der Mensch ist doppelt angelegt und sein Grundproblem ist die Zeit, durch die er geht bis ans Ende, bis dahin, wo der Todesvogel, das »erfahrene« Käuzchen ruft, und gegen die er immer kämpft. Ist dieser Kampf vorbei, stirbt in der erlebten Realität der Mensch.

Der Regenpalast

Ob YG einen der buddhistischen Grundtexte über die Aufnahme Yasos gekannt hat? Yaso, wird berichtet, hatte drei Paläste, darunter einen Regenpalast, in welchem er, wenn er sich dort aufhielt, die Zeit vergaß. Das Gedicht liegt vor in einem Manuskript von YG, stammt aus dem Konvolut »Die Liebessonne« und ist undatiert. Das sprechende Ich hat dem Du, welches nur dadurch charakterisiert ist, dass es sich »immer erneuert für mich wandeln kann«, einen Palast gebaut in einer anderen Welt, der Regenwelt. Wurden auch schon im Wüstenhaupt »Regenleitern« benutzt, ist in diesem Text am deutlichsten von allen die Schaffung von Dingen der neuen Welt durch Namengebung beschrieben: Regenpalast, Regenwein, Regenpalme, Regenurwald, Regenbienen, Regenblut, Regendiamanten, Regenreich, Regenjahre, Regenfenster, Regenfahnen, Regentuch. Unverändert ist lediglich der »Perlensaal«, der die Ausnahme ist, kein »Regenperlensaal« in dieser Regenwelt. Es gibt also Beziehungen zur bekannten, zur »alten« Realität. Allerdings ist dieser unveränderte Saal »heimlich« geblieben. In diesem Saal strickt das Du ein Regentuch, welches das Leichnamstuch ist. In »Dichtungen« ist der Satz verändert: »Du aber strickst mir heimlich im Perlensaal« statt » Du aber strickst im heimlichen Perlensaal«, was sinnverschiebend ist Wie im Salzsee geht es wieder um die Zeit. Sie weht »mit Regenfahnen über das Meer« und endet »elend in alten Morästen.« »Bis in die Ewigkeit warm und haltbar« ist wieder nur das Leichentuch. Die Sprache benutzt das Wasser, das Verrinnen als Metapher für das Vergehen der Zeit. Um in den begehrten Zustand der Zeitlosigkeit zu kommen, muss man erst sterben. Diese Aussage ist die Gleiche wie im Salzsee. Es geht aus dem Text nicht hervor, dass es sich hier um ein Liebespaar handelt, und schon gar nicht persönlich um »Yvan und Claire«, wie Carmody (1956) unterstellt. Es ist folglich auch nicht zu schließen, dass der Palast (so wie nach Carmody auch die Türme, Hütten und Schlösser) »Goll’s dominant obsession with security for love against exstinction through loss of consciousness and death« zeigt. Parmee (1981)sieht im Regenpalast zwar die Schöpfung »of a new world of the imagination«, kommt aber auch zu dem nicht akzeptablen Schluss, diese Schöpfung habe der Dichter vorgenommen, damit das reale Paar Yvan und Claire »eternally in comfort and beauty« leben könne. Auch für Perkins (1968) Meinung, dass hier »the materials used in its construction have been chosen by Goll to reflect Claire’s beauty and purity« lässt sich im Text kein Anhalt finden. Vielmehr schauen Ich und Du – beziehungsweise das aus Beiden bestehende Selbst – aus ihrer konstruierten Welt auf die Zeit in dem Wissen, dass mit deren Ende auch ihr eigenes vorgezeichnet ist. Im »heimlichen« Perlensaal, dem übriggebliebenen Realitätsteil, wird bereits das Leichnamstuch gestrickt.

Der Staubbaum

Von diesem Gedicht liegen mehrere Manuskripte von YG vor, sowohl im Konvolut »Die Liebessonne« wie auch in »Blocco per note«, mit Textvariationen und undatiert. Die gleiche Technik wie im »Regenpalast« wird benutzt: eine neue Welt wird evoziert durch Namensgebung: Staubbaum, Staubhand, Staubwald, Staubvogel, Staubrose. Dieses Mal wird die Zeit nicht direkt angesprochen, sondern indirekt als Erinnerung (»überall wo wir gegangen)« und Vergessen; insofern ist Müllers Beobachtung richtig, der vom Staub als Symbol der Vergänglichkeit spricht. Auch drängt sich die Konnotation der biblischen Aussage, der Mensch sei Staub und werde wieder zu Staub, geradezu auf. Das Vergessen ist in Form von Türmen dargestellt, welche im Erleben erst aufsteigen, dann aber nach innen fallen. Die Erinnerung sagt, dass das Ich gemeinsam mit dem Du dort gewesen ist, aber wohl zu einer Zeit, als die Staubwelt dort nicht existierte. Noch strahlt das orangenfarbene Licht des Du, aber es wird schon immer dunkler; die Strukturen sind so empfindlich, dass man sie nicht anrühren darf, auch wenn man es möchte; das Anrühren allein könnte zerstören. Das Ich erfüllt sein einziges Vorhaben: »Die Sage unserer Liebe lass ich in Quarz verpacken, Das Gold unserer Träume in einer Wüste vergraben.« Das Streben nach Dauerhaftigkeit in der sich verändernden Welt und schwindenden Zeit ist auch hier das Hauptthema. Dauer und Zukunft sollen noch im Staub zu finden sein. Das hier evozierte Bild erinnert an eine Reliefarbeit mit Sandüberzug Picassos von 1930: Sand, Handschuh, Karton, Pflanzen auf der Rückseite eines mit Leinwand bespannten Keilrahmens.(Musee Picasso Paris) »Eine vage Idee von Gesicht, Körper, menschlicher Präsenz wird vermittelt und gleichzeitig in große Distanz gerückt, indem die Darstellung mit einer Schicht aus grauem Sand überzogen wurde«, wie Klingsöhr schreibt.. Picasso hatte gesagt: Ich male die Dinge, wie ich sie denke, nicht wie ich sie sehe. Und »Wenn es nur eine einzige Wahrheit gäbe, könnte man nicht hundert Bilder über dasselbe Thema malen. Auf die gleiche Weise schreibt YG die Dinge, wie sie nach seiner Auffassung dichterisch zu denken sind, nicht als Abbildung der Realität. Die Staubwelt ist die Welt nach der irdischen Zeit, wie bei Nelly Sachs, die den Schmetterling anspricht »Welch schönes Jenseits ist in Deinen Staub gemalt«.

Auch aus diesem Text geht nicht hervor, dass »Yvan, already isolated from reality«, Claire durch einen Rosengarten geleitet (Carmody 1956) oder dass das orangene Licht Claire »ist«.(Parmee 1981)..Der Schluss, dass »even at the end Goll desires to immortalize his love for Claire«(Perkins 1968) kann nicht gezogen werden. Der Text spricht lediglich davon, dass versucht wird, etwas zu bewahren, selbst in einer anderen, offensichtlich nicht realen Welt, der Staubwelt. Tatsächlich erscheint in diesem Gedicht das Wort »Liebe«, für was oder wen wird aber nicht näher definiert. Es kann sich also durchaus auch gar nicht um eine Person handeln. Das ist sogar wahrscheinlich, denn nicht von der Liebe selbst ist die Rede, sondern von ihrer »Sage«. Wie im »Wüstenhaupt« der »Name«, so soll hier diese bewahrt werden. Das Bewahren bezieht sich nicht auf Personen oder Gefühle aus der realen Welt, es geht um das Benennen, die »Sage«, um einen Meta-Prozess.

Die Aschenhütte

Dieses Gedicht liegt in drei Manuskripten vor, eins davon im Konvolut »Die Liebessonne,« alle undatiert. Der Titel wechselt zwischen »Die Hütte aus Asche« und »Die Aschenhütte.« Letzterer wird hier benutzt, weil der Autor im Brief an Bosquet diesen Titel verwandte. Wieder spricht das Ich vom Wir, wobei es auch das Du anredet. Wie im »Regenpalast«, so hatte das Ich auch hier an ein Haus in einer anderen Welt gedacht, ein »Haus aus klingendem Glas,« da »wir« [ ...] »kein Haus wie die andern an sicherer Straße« hatten und deshalb immer weiterwandern mussten. Das Wandern ist ein romantischer Topos, aber schon am Anfang unserer literarischen Tradition steht dieses Motiv: Welterfahrung und Heimkehr, von Homers Odysseus über Goethes Grundfigur der Lebensfahrt, von Eichendorffs Taugenichts bis zum Ulysses von Joyce. Dieses Mal geschieht die Wanderung »im Schnee, der weder Salz noch Zucker war An runden Kegeln des Mondes entlang«, also in einer nicht unserer Wirklichkeit entsprechenden Landschaft aus nicht realen Materialien, einer, die an die Landschaften Tanguys erinnert, den heutigen Leser wohl auch an Aufnahmen aus dem Weltraum, z.B. einer Planetenoberfläche. Wieder taucht das »Vergessen« auf und wieder findet man ein Haus, dieses Mal eine Hütte, und zwar aus Asche; auch dies ein unwirklicher Stoff, unwahrscheinlich, da nicht tragend, um einen Bau in der uns bekannten Welt zu errichten. Asche entsteht bei Verbrennung von Materie. Man konnotiert hier auch das vorhergehende Feuer und den Akt der purificatio in der Mystik. (H.Friedrich 1962). Wieder muss gekämpft werden, dieses Mal gegen Wölfe, die fernzuhalten sind. Das Unwirkliche wird fortgesetzt: »fing im Nesselbach einen Ölfisch, der uns lange wärmte« und: »Breit war das Bett aus geschnitztem Schnee«. Hier steht aber am Ende kein Weh, kein Leichentuch und kein Entschwinden, es geschieht ein Wunder: der »goldene« Leib des angesprochenenen Du »erstrahlte als nächtliche Sonne.« Das ist mehr als nur das Lager im »Salzsee«, das Oxymoron »nächtliche Sonne« bedeutet nicht »Sonne in der Nacht«, eine Sonne also, die das Dunkel erhellen könnte. Nächtliche Sonne ist in sich nicht möglich in unserem Begriffssystem, sie kann nur postuliert werden in einer Welt, in der die uns als real geltenden Bedingungen nicht gelten, einer anderen Welt mit ganz anderen Gesetzen, auf die ja auch das »Wunder« hinweist. Dass ein »Leib« so zur strahlenden Lichtquelle werden kann entspricht einer Transmutation im alchemistischen oder auch einer Transsubstantiation im religiösen Sinne. So wird in diesem Gedicht in einer letzten Steigerung nach dem Versuch, sich in die »Überwelt« zu begeben, der Ausblick auf Transzendenz als Möglichkeit genannt, das »Wunder« postuliert, ein Einbruch des Göttlichen an der Grenze des menschlichen Vermögens, eine Erlösungsvorstellung.

Es ist nachvollziehbar, dass bei diesem Gedicht ganz am Ende auch vermutet werden konnte, es handele sich um zwei Liebende, die hier als Ich und Du auftreten; Vieles spricht aber dagegen. Sieht man das Gedicht im Zusammenhang mit allen hier von YG für Bosquet ausgesuchten Texten, so korrespondiert das »Du«, welches nach den Schutzvögeln rief, eher mit der Hälfte des Selbst, die nicht durch Ratio kontrolliert, sondern durch Glauben und Hinwendung zu Magie charakterisiert ist. In diesem Falle wandert ein Selbst also allein in der Wirklichkeit, kämpft gegen die Zeit, erschafft sich eine neue Welt und wird am Ende Empfänger des Wunders der Transzendenz. In jedem Falle aber ist es nicht möglich zu schließen, dass es sich um die Person des Autor handelt, wie z.B. von Perkins (1968) unterstellt (»He and Claire are wandering, exiled and homeless«).

Schon Exner (1960) betonte die vielschichtige Metaphorik dieses Textes. Er wies ebenfalls auf die Ähnlichkeit mit den Landschaften Tanguys hin und schrieb, dass »mit ein paar schnellen Schnitten die Realität aller Wirklichkeit entschält« wird, was »meisterhafter Surrealismus im Deutschen« sei. Dass allerdings auch nach seiner Meinung »hinter allen Versen der Name der Geliebten, Golls große Chiffre: Claire« verborgen sei, wird man nicht stehen lassen können, genauso wenig wie die Aussage Perkins (1968): »Claire provides light and warmth [...] for the poet in the midst of a depersonalized and desolate world.« Parmee (1981) interpretiert die »Aschenhütte« als Traumsequenz und beschreibt den Höhepunkt als »presented almost after the fashion of a religious miracle«, ordnet die Szene des »Wunders« aber wieder biografisch ein, indem sie unter anderem das Oxymoron übersieht (»the beloved’s body illumines the night LIKE a golden sun«). Die Einfügung des »like« verändert hier den Sinn des Verses, abgesehen davon, dass, folgt man Benn, (in »Problemen der Lyrik«) das »WIE« immer ein »Bruch in der Vision« ist. Hingewiesen werden muss wiederum auf die perfekten lyrischen Verkürzungsformen wie das Bett aus geschnitztem Schnee. Die besonders neuartige mutige Formulierung »man hörte die lachenden Gebisse der Wölfe« ist in der von Claire Goll herausgegebenen Fassung geändert worden. Dort, in »Dichtungen«, liest man: »das lachende Bellen der Wölfe« » Vera Profit, die dieses Gedicht für eine der »most beautiful« hält, im Übrigen aber immer von »the Golls« spricht, also automatisch unterstellt, dass es sich um Yvan und Claire handele, gibt auch einen guten Hinweis, dass nämlich »the gold of the alchemists had also been defined as the sun in the earth«, interpretiert aber dennoch dahingehend, dass »Ivan und Claire celebrated their bond in one final denial of death«.

Alle Gedichte der Gruppe 3 evozieren neue Welten, alle thematisieren zum Einen die Zeit als den großen beschränkenden Faktor des Ichs in der Wirklichkeit und – damit zusammenhängend – Erinnerung und Vergessen, Vergehen und Wandel, zum Anderen die Aussicht auf Erhalten und Dauerhaftes, letztlich in der Dichtung. Im Wüstenhaupt reichte es nicht, eine Skulptur zu formen, da Materie verwittert und vergeht in der Zeit, die Sieger bleibt. Im »Salzsee« wird aktiv gegen die Zeit gekämpft, dann erst kann der Mensch sich niederlegen und ruhen, was in unserer Realität aber Sterben bedeutet. In Regenpalast und Staubbaum schließlich werden andere Welten bereits benannt, in der Aschenhütte wird ein Fenster zur Transzendenz eröffnet. Sprachlich arbeiten alle Gedichte mit der »Schnelligkeit der Assoziation«, die nach Goll die Qualität des Bildes bestimmt; der »geschnitzte Schnee« entspricht den »Augen aus Himmel«, dem von ihm angeführten Beispiel im »Manifest des Surrealismus, die Verkürzungen der von ihm postulierten »Radiogramm«-Lyrik.

Gruppe 4. Le chant de Raziel

Das Gedicht entstand 1948 in Metz zunächst in französischer Sprache und wurde nach Glauert 1949 in der Sammlung Elégie d’Ihpétonga suivi de Masques de Cendre in Paris in den Editions Hémisphères erstveröffentlicht. Die deutsche Veröffentlichung fand 1960 im Band »Dichtungen« statt, die Übersetzung des Gedichts stammte von CG, die den Band auch herausgab. Soweit ich es nachprüfen konnte, existiert bis heute keine andere Übersetzung. Da die Übersetzung CGs durch wesentliche Veränderungen gekennzeichnet ist – das Original hat 14 Strophen, die Übersetzung CGs acht; sieben Strophen sind weggelassen, eine neu hinzugefügt – gehe ich hier von einer eigenen wörtlichen Übersetzung der französischen Originalversion aus.

Der Titel nennt den schon mehrfach erwähnten Abulafia-Raziel und führt daher, im Gegensatz zu den Gedichten der Gruppe 1 und 3, zunächst wieder einen realen Bezug ein. Das Gedicht hat vierzehn Strophen, dreizehn bestehen aus zwei Zeilen, die letzte aus nur einer Zeile. »Verbe« kommt in jeder Strophe vor. Das Übersetzungsproblem beginnt schon hier. YG hat »verbe« geschrieben, nicht »mot« und auch nicht »parole«, eigentlich müsste also mit »Verb«, nicht mit »Wort« übersetzt werden. Nun stellt sich dieses Gedicht aber so klar in die biblische Konnotation des Dornbusches und des Wortes, dass hier des Autors Absicht angenommen werden muss, den gleichen Begriff wie in jenem alten Text zu verwenden. Im gleichen Sinne ist zu verstehen, dass der Dichter »Verbe« immer mit großem Anfangsbuchstaben verwendet. Das steht im Gegensatz zu Carmodys Deutung, der »Le Verbe« als » a word or an idea« auffasst und der Meinung ist, »nothing justifies a religious or a metaphysical explanation.« Im Französischen werden parole, mot und verbe in bestimmten Situationen auch synonym benutzt, in anderen abgegrenzt. Im Deutschen heißt die Übersetzung des Johannesevangeliums aber: Am Anfang war das Wort. Es handelt sich also um DAS WORT, jenes, welches am Anfang der Schöpfung Gottes stand und welches den Dichter und seine Schöpfung betrifft. Gleich am Eingang des Gedichts verweist die erste Zeile der 1. Strophe auf den Busch (Moses) und die Schöpfungsgeschichte, die zweite durch die Konnotation »Ungaretti – M’illumino d’immenso« (»m’allume«) direkt auf den Dichter. So wie der eine Busch mit der Schöpfung Gottes zu tun hat, so der andere mit der Schöpfung des Dichters. Der Dichter muss ein aufnahmebereiter Mensch sein, in seinem Herzen muss »mousse« sein, ein Schaumgeflecht wie die Plazenta, damit das Wort sich dort einnisten kann. Das Wort selbst ist Marmor, Material, welches bearbeitet werden muss, aber darin schlagen die Blutgefäße. Der an sich blinde Dichter erwartet das Geschenk des Wortes wie Regen, und wenn er es dann festhält und besitzt, dann verwandelt sich selbst der schwarze Vogel in eine Lyra (»dans la cage de mon Verbe devient ménure«). Das Wort ist lebendig, (»henissement«) wird personifiziert, es kommt und entzieht sich, muss gejagt werden, wird aber auch sehnsüchtig erwartet. Es kann blutig (»sanglant« – auch: beleidigend) sein, sich verändern, letztlich aber auch helfen und verteidigen (»armure de flammes«), der Dichter erhofft von ihm, dass es die Bastion Gottes erobern und ihn bei den Engeln ankündigen wird.

Wozu aber sind all diese Dinge, die »Listen« (Schlauheiten) des Wortes nötig? »Pour ouvrir l’huître de nuit,« sagt die 13. Strophe und eröffnet damit ein ganzes Feld. Dichtung als Möglichkeit, in ein geschlossenes hermetisches Gebiet (Auster) einzudringen, Licht in ein Dunkel zu bringen, Rätsel zu lösen. In der letzten Strophe, die nur aus einer einzigen Zeile besteht, was ihre Wichtigkeit noch unterstreicht, folgt dann der alles umfassende Satz: »A la fin était le Verbe.« Am Anfang war also das Wort und am »Ende wird wieder das Wort sein (und nicht die Propaganda),« wie Benn sagt? Nein, hier nimmt der Sprechende einen Standpunkt in der Zukunft ein. Am Ende WAR das Wort, ebenso wie am Anfang. Das setzt unsere lineare Zeitvorstellung außer Kraft, der sichtbar überrealistische Text ordnet sich außerhalb unserer tradierten rationalen Vorstellungen ein. Ein Kreis schließt sich, die einzige Unendlichkeitsfigur, Oroboros, die hermetische Schlange. Das Wort ist und war am Anfang und am Ende. Der Dichter nimmt für sich in Anspruch, innerhalb dieses Kreises Schöpfer zu sein. »Am Ende war das Wort« schreibt YG auch im MdR, und zwar nach der »langen geduldigen Metamorphose, die, im Dichter, den Gegenstand in Wort verwandelte«.

Es gibt im lyrischen Werk YGs weitere sieben Gedichte, die »Raziel« im Titel anführen. In der Sammlung Fruit from Saturn fügt Goll Erklärungen an (»Notes«): »The Kabbalist (Abraham, Abulafia, born 1940 in Saragossa, who called himself Raziel) sougth to achieve the highest degree of perception by the close study of the names of God, through the symbolical employment of letters and numerals. [...] The BOOK OF SIGNS is one of Abulafia’s works.« Die Gedichte können hier nicht alle analysiert werden; einige Bemerkungen sollen aber folgen, da sie als Vorläufer des hier zur Debatte stehenden Gedichts Le chant de Raziel betrachtet werden können. In Fruit from Saturn wird nicht »Verb« sondern »Word« verwendet. Die erste Zeile bei Raziel I lautet: »Grace of the Word immaculate«, das Wort wird als »primal as snow«, in Raziel II als »cloth of the infinite« bezeichnet. Es taucht ein »insane king of the abstract in the desert of reality« auf, »through the alchemy of sounds recreating the creation.« Raziel selbst wird beschrieben, wie er die singende Stadt baut, »casting alphabets and magic keys To find the 70 names of God«. Im Char Triomphale findet sich das Gedicht Raziel in Gestalt eines Sonetts; hier werden noch deutlicher kabbalistische und magische Elemente verarbeitet und es ist die Rede von »soixante-douze noms de l’innommable dieu.« Schließlich ist in den zwei Raziel-Gedichten aus den Cercles Magiques das zweite identisch mit dem erwähnten aus Le Char. Das erste spricht Raziel zunächst direkt an, evoziert dann den Kabbalisten: er »appelle Dieu de ses soixante-douze noms«, und »édifia en vingt ans le château du Verbe Où Dieu etait captif dans ses soixante-douze noms«. Es geht also in allen Raziel-Gedichten um das Höhere, die Namensfindung und Namensgebung des Höheren innerhalb einer magischen und hermetisch verschlossenen Welt, aber erst in Raziels Gesang aus Traumkraut wird der direkte Bogen geschlagen zum Dichter, der das Gleiche tut: benennen, damit Schöpfer sein. Direkt ausgesprochen wird dies dann in der Ars poetica, dem unveröffentlichten Gedicht, in dem YG die Aufgabe des Dichters thematisiert.

Die Traumkraut-Gedichte als Vermächtnis

Es ist deutlich geworden, dass in den Traumkraut-Gedichten das zentrale Thema nicht reales Leiden und Tod des Autors sind, auch nicht der Aufbau eines Refugiums vor diesem Tod in der Person einer realen Gefährtin, wie Carmody meinte. Εs ist auch nicht so, dass diese Gedichte Liebesgedichte sind oder gar, dass sie »almost surrealistic adaptations of Goll’s portrayal of Claire in the Poemes d’Amour« darstellen, wie man bei Perkins lesen kann. Vielmehr geht es um das, was schon im Titel steht, um das Kraut, welches aus dem Traum erwächst, der Vision, dem Blick auf überzeitliche Wirklichkeiten. Aus der Realität, dem Vegetativum, erwächst das unscheinbare Kraut, welches zu der Dichterblume der Romantik wird, allerdings wächst es in moderner Zeit, in der die Vernunft des Dichters erst mit der Arbeit beginnen muss: im Laboratorium der Worte. In diesem Prozess werden Worte neu geschaffen, so dass sie am »Ende« stehen und wie in der Kabbala wird aus Buchstaben Neues geformt, das »Ding an sich«, oder sogar Gott, wenn man so Seinen Namen findet, Ihn benennt. Das moderne Ich findet eine neue Welt nicht vor, es muss sie erst herstellen, und Gott selbst auch. An der Schwelle zur Eschatologie sieht YG aber eine Grenze für den Menschen und lässt auch das »Wunder« zu.

Die Traumkraut-Gedichte sind also völlig unabhängig von den früheren Liebesgedichten zu sehen. Sie sind überrealistische Gedichte, Gedichte des Überzeitlichen in der Zeitlichkeit; sie erfüllen YGs in seinen theoretischen Schriften niedergelegtes Ziel der Poetik und können damit als sein Vermächtnis gelten, wie es ja, geht man von dem Brief an Bosquet aus, auch die erklärte Absicht des Dichters gewesen ist. Dabei wird inhaltlich und sprachlich jedes Mittel ausgschöpft, um diese Überrealität herzustellen: inhaltliche Bögen vom Historischen zum Hermetischen in einer paradoxen Vereinigung, von der Suche der romantischen Dichterblume zu ihrer Neuschöpfung, vom material Vorgegebenen zum Zeichen und zur neuen Synthese, letztlich vom Vorhandensein von Wörtern und Dingen über die vom Dichter vorzunehmende Metamorphose hin zum Endprodukt der poetischen Wirklichkeit. Rimbauds »Alchemie des Wortes« ist hier umgesetzt, sprachlich vor allem durch die Kontraktion von Substantiven, (auch dies ein Kondensationsvorgang, chemisch-alchemistischer Begriff), durch Wortneuschöpfungen, oft in Form von Katachresen, wodurch ganz neue Bedeutungsdimensionen entstehen, durch die Wortdichte des »bis zum Platzen geladenen« Verses, durch die hohe Bildlichkeit als »Prüfstein guter Dichtung.« Das auf kürzeste Weise Ausgedrückte eröffnet die weitesten Assoziationsfelder. Die neuen Bilder, die durch den Assoziationsprozess entstehen, kommen dem »Image« von Reverdy am nächsten, kein – im Gegensatz zur Metapher – Transportmittel von Sinn und Bedeutung, sondern etwas Bedeutung Stiftendes. »Gestaltung ist immer Schmelzen, Gießen, Hämmern und Sieben«, schreibt YG an Paula Ludwig. »Das Meistmögliche mit den wenigsten Worten aussagen. Oder vielmehr: nicht sagen, sondern dichten, verdichten. Auf den letzten Nenner bringen. Jeden Relativsatz vermeiden, jeden Nebensatz überhaupt. Jedes Wort soll goldhaltig sein.«

Einige kurze Bemerkungen zum »DU«, »ICH« und »WIR« der Gedichte sollen angeschlossen werden. Es besteht ein kategorialer Unterschied zwischen dem Autor und dem im Gedicht sprachlich konstitutierten Ich. Schon im Barock war das »Ich« oft repräsentativ, stand z.B. für alle Menschen einer Gruppe. Das »lyrische Ich« Susmans ist überindividuell und nicht identisch mit dem empirischen. Die Benutzung eines »Du« kann Selbstdarstellung des »Ich« bedeuten, es kann ein Scheindialog stattfinden oder eine echte Aufspaltung des »Ich« dargestellt werden. Aus der christlichen Tradition ist das Ansprechen Gottes mit »Du« bekannt, in der Romantik wurde die Natur so angeredet. Bei Baudelaire wird bereits das Spektrum der personifizierend angesprochenen Instanzen erweitert, vor allem die Poesie selbst wird einbezogen. Bei Apollinaire schließlich spricht sich das artikulierte »Ich« mit »Du« an und tritt hypostasierten inneren Vorstellungen gegenüber. Nach Blüher wird das lyrische Ich durch das Mittel der Selbstanrede in eine »überpersönliche transsubjektive Instanz« verwandelt. Nach Hugo Friedrich hat mit Rimbaud die Trennung des dichterischen Subjekts vom empirischen Ich eingesetzt, »die allein schon verbieten würde, moderne Lyrik als biografische Aussage zu verstehen.« Wird das »Wir« benutzt, so enthält es stets auch das Ich, darüber hinaus kann es Andere einschließen. Es schafft, so Burdorf, Öffentlichkeit, indem es keine Intimität bedeutet.

War Überrealität bei Baudelaire ein Ausblick in die Irrealität, um den Beengungen des Realen zu entgehen, so geht es beim Überrealismus YGs durchaus nicht nur um die Entdeckung der Welt jenseits der Realität, sondern um ihre Neuerschaffung. Genau das ist in den Traumkraut-Gedichten verwirklicht. Die Wirklichkeit der Dichtung steht jenseits von Zeit und Raum und erschafft Bleibendes, aere perennius. Wie bei der Alchemie ist dabei der Prozess wichtig. Das ist aber nicht Alles. Zwar sollen Transformation, Transmutation, Transfiguration, Metamorphose auch zu Höherem führen; zwar geht es um Magie, Hermetik, z.B. bei der Platzierung von Buchstaben, die alleinstehend keine Funktion haben, im Zusammenhang aber mehr bedeuten als das Einzelne, da man mit ihnen jeden Text erstellen kann. Vor allem aber werden hier nicht Dinge in Worte verwandelt, sondern das erklärte Ziel ist, Worte in Dinge zu verwandeln und einen Zugang zum Höchsten zu ermöglichen. YG legt zugrunde die Ähnlichkeit zwischen den Methoden und Zielen des Dichtens und der Kabbala. Der, der Gott benennt, kennt Ihn. Das Wort erschafft Gott selbst, aber auch den Zugang zu ihm. Dabei geht es nicht um das einfache Wort, sondern dieses muss erst gereinigt werden wie in einer alchemistischen Destillation, bis die transmutatio stattfindet. In dem neu erschaffenen poetischen Universum besteht vor allem nicht mehr die Zeit in unserem Sinne als stärkste Begrenzung des menschlichen Seins. Sie ist aufgehoben wie auch der Raum. Nur die »Traumzeit« käme ihr nahe. In allen Traumkraut-Gedichten geht es um dieses visionäre Überschreiten der Zeit. Darüber hinaus wird die Konstruktion von etwas Dauerhaftem thematisiert, allerdings nicht als vordergründiges Refugium für zwei Liebende oder gar ein bestimmtes Paar; das Dauerhafte ist vielmehr die Dichtung, die nicht nur die »Sagen« bewahren kann, sondern auch die gefundenen »Namen«.

Betont werden soll schließlich YGs Streben nach Synthese. Schon die »großartige Mischung von Abstraktem und Konkretem in der Sprache« (Exner 1954) ist eine Synthese von Gegensätzen. Zur Synthese gehört auch die Verbindung von Altem und Neuem. Es gibt keine creatio ex nihilo. Poesie ist Schöpfung, aber nicht aus dem Nichts. Nicht um das um jeden Preis Neue geht es, sondern um den Prozess von De- und Recomposition, der schon seit Baudelaire bekannt ist, oder auch um das bei Huidobro verwendete Verweben von Vertrautem mit Fremdem. In diesem Prozess kann dann jedes Wort neue Bedeutungen erlangen. So bleibt bei YG trotz Chiffrierung immer ein konkreter Wirklichkeitsbezug da, seine Dichtung ist nicht ganz »hermetisch«, sie zeigt nur hermetische Teile. Er hebt sich ab sowohl vom Abbildungsprozess des Realismus – Naturalismus wie auch des Symbolismus und Ästhezitismus. Die Grundlage ist, Wortkombinationen zu entwerfen, die sich der »Alltagslogik querstellen«, wie Goll selbst formuliert. Synthese ist auch, dass diese Poesie sowohl »Rhythmus« wie »metaphysische Sendung« besitzt, Form und Metaphysik, – auch in diesem Sinne steht YG Benn näher als z.B. Breton; Synthese ist die Verbindung von Intellektualität und archaischem Geheimniszauber, (H. Friedrich), von Ratio und Gefühl, Synthese ist am Ende das Einbringen der zahllosen Einflüsse aller geistigen Strömungen der Zeit, die der poeta doctus YG in sich aufnahm und daraus seine Poesie und Poetik formte. Dazu gehört das »Positivistische« genauso wie das »Mystische«. Man kann das als Ismensynkretismus bezeichnen, wenn man damit nicht die Vorstellung einer ausgearbeiteten Theorie verbindet, sondern das Ergebnis der praktischen Einarbeitung aller Einflüsse. YG sah dennoch die Einbildungskraft als den Kern, die eigentliche schöpferische Komponente an. Auch das erinnert an Benn, seinen »dumpfen schöpferischen Keim, die psychische Materie«, die erst da sein müssen, bevor die Arbeit der Vernunft beginnt, der Dichter im Laboratorium der Worte arbeitet. In diesem Wortlaboratorium arbeitet Benn betonter medizinisch naturwissenschaftlich, YG chemisch-alchemistisch. Synthese bei YG ist das »Ja UND Nein«, was Goll einmal als Widmung in ein Buch schrieb.

So umfassen die Gedichte der Sammlung »Traumkraut« thematisch die Geschichte des Menschen, seine Kreatürlichkeit, seine Realität und seine Traumwelt, seine Versuche, mit allen Mitteln, auf positivistisch – wissenschaftliche und magisch – hermetische Weise zu einer Entschlüsselung dieser Welt und des Universums zu kommen und seinen Kampf mit den Gegebenheiten der Wirklichkeit, vor allem der Zeit. Sie befassen sich vor allem mit des Menschen einziger Möglichkeit einer Schöpfung von etwas Dauerhaftem, die nach Meinung YGs letztlich nur in der Dichtung besteht. ΠΟΙΗΣΗ, seit Aristoteles das Erschaffen. Das Gedicht ist nicht Nachahmung, aber auch nicht nur Darstellung einer Wirklichkeit, sondern geistige Schöpfung einer neuen Welt. Elemente, Materialien der realen Welt werden benutzt, um eine ganz neue zu schaffen. Dazu kommt der Ausblick auf Transzendenz, ob religiös oder säkularisiert. Die Themen sind nicht »nur die Liebe«, auch nicht Krankheit und Tod an sich, sondern Zeit und Wandel, Vergehen und Dauerhaftigkeit und vor allem Poesie. Das BENENNEN, aus dem Wirkliches entspringt, zeigt die Allmacht des Wortes. Es ist nicht wichtig, ob Goll sich selbst mit Raziel, seiner Inkarnation des modernen Dichters, identifizierte, wie Schwandt meinte. Wesentlich ist, dass schließlich eine Gleichsetzung von Gott und Wort stattfindet. »Gott war das Wort« steht in der Bibel. Hier erschafft das Wort Gott. Wenn YG gesagt hat, jetzt vor dem Tode sei er zum ersten Mal dem Geheimnis des Wortes nahegekommen, so ist wiederum »Wort« in dieser ganzen Komplexität zu sehen.

YGs dichterisches und theoretisches Werk muss in die Gesamtheit der europäischen Avantgarde eingeordnet werden; es unterlag verschiedensten Einflüssen, denen der Epoche, der Kunstrichtungen und aller geistigen Strömungen, die den poeta doctus YG geprägt haben. Von großer Wichtigkeit war dabei die wechselseitige Erhellung der Künste. Spezielle Einflüsse von Apollinaire, Artaud und Huidobro sind hervorzuheben, ebenso YGs Beschäftigung mit Traum, Hermetischem und Okkultem und die Wurzeln, die seine Poetik in der Kabbala hat: Benennen und Erschaffen. Es konnte nachgezeichnet werden, dass Goll konsequent »Überrealist« gewesen ist, – was im Rahmen seines lebenslangen Interesses an den Fragen des Zusammenhangs zwischen Sprache und Realität, poetischer Sprache und Herstellung von Realität zu sehen ist, – dass er sich aber radikal von dem »Surrealismus« Bretons unterscheidet. Anhand einer Analyse ausgewählter Gedichte aus Traumkraut wurde gezeigt, dass auch diese Sammlung YGs übergreifendem Thema Überrealismus zuzuordnen ist und dass man sie nicht, wie bisher meist erfolgt, in die Rubrik »Liebeslyrik« einordnen sollte. Wie Schwandt schon 1968 anhand anderer später Gedichte nachgewiesen hat, ist YGs Poetik durch das Streben nach »Bewältigung und Überwindung des Lebens durch die Kunst« gekennzeichnet, wodurch er Benn und Nietzsche näher steht als den Surrealisten um A. Breton. Es ist erstaunlich, wie stark trotz dieser schon frühen Feststellung in vielen Arbeiten bis heute Golls späte Gedichte nur biografisch-persönlich gesehen werden, wenn auch die Herangehensweise, die nicht vom Autor abstrahiert, vorzugsweise in den Arbeiten vor den achtziger Jahren anzutreffen ist. Das Problem dürfte darin liegen, dass sich das Ausgangsmaterial der Dichtung, die Sprache, von allen Materialien, die von anderen Künsten benutzt werden, radikal unterscheidet. »Farben und Klänge gibt es in der Natur, Worte nicht«, schreibt G. Benn in »Probleme der Lyrik«. Sprache ist im Gegensatz zu Farben, Formen und Tönen nicht semantisch neutral. Sie bedeutet immer schon. Von dieser Vor-Bedeutung der einzelnen Worte und ihrer Vor-Einordnung in bekannte Gegebenheiten, z.B. biografischer Art, habe ich versucht zu abstrahieren.

Die Traumkraut-Gedichte sind das poetische Vermächtnis des Dichters YG. Sie kommen dem Ideal seiner Poetik am nächsten, sind »Sprachmagie mit kreativer Potenz«. (H. Friedrich). Die Synthese, von der Goll schon 1920 als höchster Forderung der Kunst geschrieben hatte, ist hier ebenso erreicht wie die dichterische Umsetzung seiner Theorie vom Dichter als Schöpfer.

Der Ausblick in die Zukunft soll ein vierfacher sein:

  1. Es ist wohl zumindest im deutschen Sprachraum auch heute noch einzulösen, was H. Bienek schon 1976 verlangte: »Die Neu- oder auch Wiederentdeckung des dichterischen Werks von YG wird von seiner Surrealismus – Innovation ausgehen. Diese seine Wirkungsgeschichte beginnt erst.« Goll wäre dann nicht mehr als der hierzulande hauptsächlich wahrgenommene Autor von Liebesgedichten zu rezipieren, sondern als jemand, dessen Gedichte »als Anfang einer neuen Gedichtform im deutschen Sprachbereich angesehen werden müssen«, wie Bollinger schon 1948 schreibt, als der »andere Surrealist«, wohl sogar als DER literarische Surrealist, denn aus dem Kreis der als Surrealisten bezeichneten Anhänger Bretons ist »keine Dichtung von Rang« hervorgegangen. (H.Friedrich). So könnte diese neue Verortung YGs auch dazu beitragen, den Begriff »Surrealismus« in Bezug auf Literatur in Zukunft differenzierter zu verwenden.
  2. Die Modernität YGs ist an seinem Werk noch neu zu entdecken. Seine Worte im Kinodram von 1920 muten beinahe wie eine Zeitdiagnose an: »Die statischen Gesetze sind umgestoßen. Der Raum, die Zeit ist überrumpelt. Die höchsten Forderungen der Kunst: die Synthese und das Spiel der Gegensätze werden durch die Technik erst ermöglicht«; und weiter: »Der neue telegraphierende Mensch liest nur noch Titel, andeutende Hauptworte: die Entwicklung ist banal.«
  3. YGs Versuch von »Synthese« ist heute wieder interessant, fragt man doch in der jetzigen Zeit des logischen Positivismus neu, wieso eigentlich die »Naturwissenschaft ein Rationalitätsmonopol beanspruchen darf oder wieso Elektron-Quarks für uns von größerer Relevanz sein sollen als z.B. literarische Traditionen.« Das sagte Richard Rorty 2003 beim Philosophiekongress in Jena.
  4. Ein anderes, aber nicht davon zu trennenden Thema, da gerade heute im Vordergrund der Problematik unserer globalisierten Welt stehend, ist das Phänomen der Grenzüberschreitung, die sich in YG verkörpert; jene, die von der Sprachidentität zur Identität geht, welche immer wieder mit Zugehörigkeit und Abgrenzung zu tun hat, deshalb eher eine dynamische als eine statische ist, und wo nur Sprache wirklich »Haus des Seins« (Heidegger) wird.

Wie aktuell diese Bezüge sind, soll abschließend unterstrichen werden durch den Text eines ganz anderen zeitgenössischen Schriftstellers, in dem die »zweite Welt« ebenso angesprochen wird wie das Vermögen und Unvermögen von Sprache, das Problem von Zeit und Heimat ebenso wie die Identifikation von Dichtung und Schöpfung. In seiner Rede zur Verleihung des Kleistpreises 2009 sagte der Preisträger Arnold Stadler:

»Die Literatur ist jene zweite Welt, die sich der Mensch nach seiner ersten geschaffen hat, ihrem und seinem Bilde. Die hochdeutsche Sprache ist für einen deutschen Sprachausländer wie mich […] das nicht Selbstverständliche,[...] das Unerhörte und Besondere. [...] Also nicht Mitteilungsfluss und Information, weder Inhalt noch Verkehrsmittel ist die Sprache, [...] sondern etwas im Sonntagsgewand, [...] mit dem wir es sagen können, dass wir es doch nicht sagen können. [...] Aber was Sprache ist, weiß ich immer noch nicht. […] Jeder, der schreibt, muss mit der Gabe der Bilokalität versehen sein, das heißt er muss hier und dort sein, in einem Einst und Jetzt. [...] Wir sind da, wo wir sind, auf Zeit, und auch so niemals ganz. Wenn wir schreiben [...], sind wir immer auch irgendwo anders. [...] Der Schriftsteller ist in allen Zeitzonen unterwegs. Und zwar gleichzeitig. Und immer sind wir [...] beim Schreiben und beim Lesen auf einem Nachhauseweg.«

 

Literatur

1. Primärliteratur

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BOSQUET, ALAIN, Brief an Yvan Goll vom 27.9.1949. DLA Marbach
GOLL, IWAN, Vom Geistigen. In: Die Aktion, 7. Jg. 1917, Nr. 51-52, Sp. 677-679
GOLL, IWAN, Appell an die Kunst. In : Die Aktion, 7. Jg. 1917, Nr. 45-45, Sp. 599-60
GOLL, IWAN, Menschenleben. In: Zeit-Echo, Hg. Otto Haas Heye, 3. Jg. 1917, Heft 4, S.20-21
GOLL, IWAN, Das neue Frankreich. In: Die neue Rundschau, 1919, 1. Halbjahr, S.100-112
GOLL, IWAN, Paris, Stern der Dichter. In: Neue deutsche Rundschau, Bd. I, S. 634-646
GOLL, IWAN, Von neuer französischer Dichtung. In: Die neue Rundschau, 1920, Bd. 1, S. 103-110
GOLL, YVAN, Brief an Gottfried Benn vom 1.5.20. DLA Marbach
GOLL, IWAN, Das Lächeln Voltaires. In: Die neue Rundschau 30.Jg. 1920 2. Halbjahr S.  1311-1314
GOLL, YVAN, Brief an den verstorbenen Dichter G.Apollinaire. In: Die weissen Blätter 6.Jg., S. 78-81
GOLL, IWAN, Der Expressionismus stirbt. In: Zenit 1, 1921, Nr. 8 Oktober, S. 8-9
GOLL, IWAN, Das Wort an sich. Versuch einer neuen Poetik. In: Die Neue Rundschau, 32.Jg. 1921, S.  1082-1085
GOLL, IWAN, Fernand Leger. In: Das Kunstblatt, VI.Jg., 1922, S. 73-77
GOLL, IWAN, Bitte umsteigen. In: Das Kunstblatt 7, 1923, S, 330-331
GOLL, IWAN, Zwischen Paris und Berlin. In: Der neue Merkur, 7.Jg., 1923-24., S. 426-429
GOLL, IWAN, Fernand Leger. In: Das Kunstblatt, VI. Jg, 1922, S. 73-77
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GOLL, IWAN, Surrealisme. In: Œuvres I , 1924, S. 87-89
GOLL, IWAN, Die drei guten Geister Frankreichs. In: Tribüne der Kunst und Zeit, Berlin S. 72-76
GOLL, IWAN, Moderne Hai – Kais. In: Die Literarische Welt 46, 1927, S. 3
GOLL, IWAN, Der Homer unserer Zeit. In: Die literarische Welt 24, 1927, S. 1-2
GOLL, YVAN, Brief an Hans Bollinger vom 19.5.1948. DLA Marbach
GOLL, YVAN, Brief an Alfred Döblin vom 20.3.1948. DLA Marbach GOLL, YVAN, (als Tristan Thor): Brief an Alfred Döblin vom 30.5.1948. DLA Marbach
GOLL, YVAN, French poetry between the two wars. Typoskript 16 Seiten. DLA Marbach
GOLL, YVAN, Handschriftliches Bruchstück eines Briefes an Alfred Döblin. DLA Marbach*

* Nr. 7815432. Im handschriftlichen Text lese ich als Datum 20. März 1948. In einer in Marbach befindlichen Schreibmaschinenversion (benannt als »handschriftliches Bruchstück eines Briefs Yvan Golls an Döblin«, auf welchem handschriftlich die gleiche Nummer angefügt wurde) ist dagegen die Rede vom »20. May 1948.« Ich halte dies für einen Fehler, darauf zurückzuführen, dass YG die alte deutsche Schrift benutzte, so dass das »z« als »y« gelesen wurde. Es wäre auch nicht erklärbar, warum in einem deutschsprachigen Brief in Paris aus einem Hotel mit französischsprachigem Briefkopf Goll hier den englischen Begriff für den Monat benutzt haben sollte. Weiterhin ist das »Surrealism« des Originals mit »Surrealismus« wiedergegeben, das »eingestürzt« mit »umgestürzt«.

GOLL, YVAN, Brief an Alain Bosquet vom 8.2.1950
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GOLL, IWAN, Unter keinem Stern geboren, Berlin und Weimar 1973
GOLL, YVAN, Gedichte 1924-1950. Ausgewählt von Horst Bienek. München 1976
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3. Weitere Literatur

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4. Weitere benutzte Quellen

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http://www.khm.de/audiolectures/audiolectures/
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