Hubertus Busche
Georg Simmels »Tragödie der Kultur« –
90 Jahre danach

Meine Hagener Antrittsvorlesung entwirft kein Programm künftiger Forschung. Nicht einmal liegt ihr Thema im Zentrum meiner Interessen. Vielmehr habe ich das Thema gewählt als symbolische Verbeugung vor unserem Fachbereich »Kultur- und Sozialwissenschaften«, der gerade einen Bachelor-Studiengang ›Kulturwissenschaften‹ anlaufen lässt. Was könnte angemessener sein, als vor diesem Fachbereich die berühmte These eines bedeutenden Kulturphilosophen zu diskutieren, der m. E. eine erhellende Makroperspektive vorgibt für unsere wieder einmal entfachte Debatte um die Kultur- und Bildungskatastrophe?

Vor etwa 90 Jahren publizierte Georg Simmel eine Reihe von Schriften, in denen er der Kultur unserer westlichen Gesellschaften eine Erkrankung attestierte. Er glaubte sogar, dass ihr eine ›Tragödie‹ bevorstehe. Ich will den heutigen Tag zum Anlass nehmen für eine gedankliche Bilanz, die in zwei Schritten erfolgt. Erstens: Was genau besagt Simmels viel zitierte, aber wenig diskutierte ›Tragödie der Kultur‹? Noch in der jüngsten Simmelforschung wird zu Recht das gegenläufige Verhältnis betont zwischen der Bekanntheit der Parole und der Verschlossenheit ihres Inhalts: »In dem viel zitierten Diktum von der ›Tragödie der Kultur‹« kulminiert eine »breite Rezeption« der Simmelschen Kulturkritik. »Hinter der Prägnanz dieses Ausdrucks verbirgt sich indes eine mehrdeutige Referenz, und auch die Sache selbst ist weit weniger evident, als es scheint« (Willfried Geßner: Der Schatz im Acker. Georg Simmels Philosophie der Kultur, Weilerswist 2003, 153).

Und zweitens: Was an der These von der ›Tragödie der Kultur‹ hat sich bewahrheitet, was als gegenstandslos erwiesen? Drei Möglichkeiten liegen nahe: 1. Die Tragödie der Kultur fand nicht statt, und Simmels düstere Prophezeiung war wieder einmal eine typische Schwarzmalerei wichtigtuerischer Intellektueller. 2. Die Tragödie der Kultur steht sehr wohl bevor, wenn sie nicht längst eingetreten ist; nur wir wollen sie nicht zur Kenntnis nehmen oder haben sie verschlafen. Oder 3. Simmel beschreibt in der Tat hellsichtig eine dramatische Entwicklung, übertreibt jedoch ihre Konsequenzen durch Stilisierung ins Tragische. Die Heldin Kultur steht nicht vor dem Untergang, sondern befindet sich eher in der midlife-crisis und muss erfinderisch werden. Warum ich persönlich eher zu dieser dritten Beurteilung neige, das will ich versuchen Ihnen darzulegen – trotz der Kürze der Zeit und der Komplexität des Themas!

Die Schriften, in denen Simmel seine Diagnose unserer »erkrankten Kultur« (XVI 39) stellt, erstrecken sich ungefähr über einen Zeitraum von 1900 bis zu seinem Tod 1918. Es handelt sich v. a. um die folgenden Texte, die hier im Text belegt werden gemäß Band- und Seitenzahl der Georg Simmel-Gesamtausgabe (GSG), hg. v. O. Rammstedt, Frankfurt a. M. 1989 ff.: Philosophie des Geldes (1900), VI; Persönliche und sachlicheKultur (1900), V 560-582; Vom Wesen der Kultur (1908), VIII 363-373; Die Zukunft unserer Kultur (1909), in: Georg Simmel: Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft, im Verein mit M. Susman hg. v. M. Landmann, Stuttgart 1957, 95-97; Der Begriff und die Tragödie der Kultur (1911/12), XIV 385-416; Die Krisis der Kultur (1916), XVI 37-53; sowie Der Konflikt der modernen Kultur (1918), XVI, 183-207. Dass ich meiner Bilanz den Titel »90 Jahre danach« gegeben habe, erklärt sich daraus, dass Simmel die zwei wichtigsten dieser Texte, nämlich die Tragödien- und die Krisis-Schrift, vor rund neunzig Jahren schrieb.

Bevor ich darlege, an welchen Symptomen der erkrankte Patient namens Kultur nach Diagnose von Herrn Dr. Simmel leidet, will ich zunächst einmal den Patienten selbst vorstellen. Das heißt: Was versteht Simmel unter ›Kultur‹? Und was unterscheidet gleichsam den gesunden Körper solcher Kultur von jenem »erkrankten« Zustand, den Simmel bei uns diagnostizieren will? Für diese Klärung sind vier historisch auskristallisierte Grundbedeutungen von Kultur zu unterscheiden. (Zur Erläuterung des Folgenden vgl. Hubertus Busche: Was ist Kultur? Erster Teil: Die vier historischen Grundbedeutungen, in: Dialektik. Zeitschrift für Kulturphilosophie 2000/1, 69-90). Simmel verknüpft sie alle in seiner sog. ›Pathologie der Kultur‹ (XVI 40). Die Vermischung dieser vier Kulturbegriffe ist der Grund für die Unklarheit und Schwammigkeit unserer heutigen Rede von ›Kultur‹. Und umgekehrt: Unterscheidet man sie klar, so zeigt sich, dass Simmels ›Tragödie der Kultur‹ etwas ganz anderes besagt als z. B. Spenglers berüchtigte Vision vom Untergang der abendländischen Kultur.

1. Die in Simmels ›Tragödie‹ verflochtenen Begriffe von Kultur

Von den vier historischen Grundbedeutungen (zusammengestellt im Anhang, Schema 1) sind es gerade die beiden ersten, die in Simmels Diagnose entscheidend sind. Simmel fasst sie zusammen unter den Begriff der ›subjektiven‹ oder ›individuellen Kultur‹, denn sie beziehen sich stets auf das einzelne Individuum, während die beiden modernen Kulturbegriffe 3 und 4 auf Kollektive übertragen werden.

Die erste, klassische Grundbedeutung hängt noch frisch an der Etymologie des Wortes. (Für einen Überblick über die sehr vielschichtige antike Wortgeschichte, von der hier nur die großen Linien verfolgt werden, empfiehlt sich immer noch die differenzierte Darstellung bei Joseph Niedermann: Kultur. Werden und Wandlungen des Begriffes und seiner Ersatzbegriffe von Cicero bis Herder, Florenz 1941, 15-36). Das lateinische nomen actionis ›cultura‹ kommt vom Verb ›colere‹, d. h. ›sorgfältig pflegen, bebauen, bearbeiten‹, aber auch ›wohnen‹. Zur Erläuterung dieser Tatsache bemerken A. Ernout/A. Meillet: Dictionnaire Etimologique de la langue latine, Histoire des mots, Paris 41959, 132: »Les deux sens apparaissent également attestés dès l’époque la plus ancienne, les deux idées étant connexes pour une population rurale, cf. agricola«. Nach dieser Etymologie sind es ursprünglich Acker und Garten, die man durch Kultivierung veredelt oder vervollkommnet.

Cicero liefert hier den locus classicus für die metaphorische Übertragung des Begriffs von der Agrikultur und Hortikultur auf die ›Geisteskultur (animi cultura)‹: Wenn die Menschen nicht bloß dahinvegetieren wollen wie ein Gemüse, sondern wenn sie ihre spezifisch menschlichen Potentiale entfalten und sich geistig höher entwickeln wollen, um human zu gedeihen, dann müssen sie ihren eigenen Geist in analoger Weise bearbeiten und pflegen wie einen Acker oder Garten, auf dass er bessere Früchte trage. »Wie ein Acker, auch wenn er fruchtbar ist, ohne Pflege keine Frucht abwerfen kann, so auch nicht ohne Belehrung der Geist. [...]« (»Ut ager quamvis fertilis sine cultura fructuosus esse non potest, sic sine doctrina animus [...]«) (Cicero: Tusculanes Disputationes, II 5 [13]). Um den Garten ihres Geistes fruchtbar zu machen, müssen die Menschen ihm eine Form geben durch Arbeit und Übung. Bei Voltaire heißt das: »Il faut cultiver notre jardin« (Candide ou l`optimisme, Schluss); und Gottfried Benn erläutert: »Du bist zwar Erde, doch du mußt sie graben« (Die Form, in: Gesammelte Werke in der Fassung der Erstdrucke, Vier Bände, hg. V. Bruno Hillebrand, Frankfurt a. M. 1986, Bd. 1, 333).

›Kultur‹ in der ersten Grundbedeutung, d. h. Kultivierung, ist also etwas, das man betreibt oder tätigt, nämlich die Veredlung von Naturanlagen durch ihre sorgfältige Bearbeitung. Weil zunächst immer nur spezielle Naturanlagen gepflegt werden können, verlangt das Wort der Klarheit wegen stets ein Genetivobjekt, wie im Deutschen die ›Verstandeskultur‹, ›Sprach‹- bzw. ›Sprechkultur‹, ›Geschmackskultur‹, ›Gesangskultur‹ oder ›Tanzkultur‹. Hierbei war es in der intellektualistischen Tradition Europas meistens nur die ›cultura animi‹ und kaum die ›cultura corporis‹, die als wertvoll galt. Und selbst bei der Geisteskultur war historisch nie unumstritten, welche mentalen Fähigkeiten genau durch Kultivierung des eigenen Geistes Früchte tragen sollten, so wenig wie die Inhalte des Bildungskanons. Gegen den herrschenden Intellektualismus z. B. gab es stets Stimmen, die zur geistigen Kultivierung auch die Entwicklung der musisch-künstlerischen Fähigkeiten und der charakterlichen Anlagen verlangten. (Einen Überblick über die Vielfalt der Wertungen vermittelt die Begriffsgeschichte von Isolde Baur: Die Geschichte des Wortes »Kultur« und seiner Zusammensetzungen, Phil. Diss. masch., München 1951.) Im Schatten der PISA-Studie sei es jedoch erlaubt an dasjenige zu erinnern, was nicht selbst schon Kultur ist, sondern lediglich die Basiskompetenzen für den Erwerb geistiger Kultur ausmacht. Es sind nicht nur Max und Moritz, die diese Basiskompetenzen für Geisteskultur verschmähen:

»Also lautet ein Beschluß:
Daß der Mensch was lernen muß. –
– Nicht allein das A-B-C
Bringt den Menschen in die Höh’.
Nicht allein im Schreiben, Lesen
Übt sich ein vernünftig Wesen;
Nicht allein in Rechnungssachen
Soll der Mensch sich Mühe machen;
Sondern auch der Weisheit Lehren
Muß man mit Vergnügen hören. –«

(Wilhelm Busch: Max und Moritz. Eine Bubengeschichte in sieben Streichen, Vierter Streich, Anfang)

Die zweite Grundbedeutung von Kultur, die in Simmels ›Tragödie der Kultur‹ die Hauptrolle spielt, hängt mit der ersten eng zusammen, ja ist im Grunde nur die Kehrseite der ersten. Denn sie steht für die Kultiviertheit, d. h. für die Kultur, die man erworben hat, und verhält sich damit zur Kultivierung wie das Ergebnis zur Tätigkeit, wie das ergon zur energeia. Sie bezeichnet den Inbegriff der veredelten oder vervollkommneten Fähigkeiten, also in Ciceros Analogie die Früchte, die auf dem eigenen Geistesacker gedeihen aufgrund langfristiger Bearbeitung, z. B. den kultivierten Geschmack oder die kultivierte Sprache.

Die beiden folgenden, modernen Grundbedeutungen von ›Kultur‹ spielen dagegen in Simmels Diagnose von der ›Tragödie der Kultur‹ eine eher untergeordnete Rolle und kommen nur mittelbar ins Spiel. Beide sind das Produkt jener von Francis Bacon über Samuel von Pufendorf bis zu Voltaire eingeleiteten, geistes- wie begriffsgeschichtlich folgenschweren Übertragung der Entwicklungsprozesse von Individuen auf Kollektive.

Eine wirklich neue, dritte Grundbedeutung von Kultur lässt sich jedoch erst seit Johann Gottfried Herder konstatieren. Er ist es, der die Referenz des Kulturbegriffs von der Tätigkeit und dem Zustand von Individuen verlagert auf den Geist und das Leben von Völkern und Epochen. Diese Kultur, in der man lebt, steht für den charakteristischen Traditionszusammenhang von Institutionen, Lebens- und Geistesformen, durch den sich ganze Zeiten und Zonen als individuell voneinander unterscheiden. ›Kultur‹ bezeichnet nun den historisch gewachsenen und damit transbiotischen Kosmos innerer und äußerer Formen, in dem Gesellschaften wohnen wie in einer zweiten Natur oder Haut. (Vgl. Theodor Genthe: Der Kulturbegriff bei Herder, Phil. Diss. Jena 1902; IrmgardTaylor: Kultur, Aufklärung, Bildung, Humanität und verwandte Begriffe bei Herder, Gießen 1938; Bernhard Kopp: Beiträge zur Kulturphilosophie der deutschen Klassik. Eine Untersuchung im Zusammenhang mit dem Bedeutungswandel des Wortes ›Kultur‹, Meisenheim a. G. 1974.) Erst seit Herder kann man deshalb z. B. von der ›altägyptischen Kultur‹ reden oder spezieller von der ›höfischen Kultur des Barock‹ usw. Und es ist dieser moderne, entgrenzte, historisierte Kulturbegriff, der von der Ethnologie bis zur Kulturanthropologie zugrunde gelegt und höchst unterschiedlich definiert wird. (Vgl. A. L. Kroeber/Clyde Cluckhohn: Culture. A critical Review of Concepts and Definitions, Cambridge Mass. 1952, New York 1967.)

Die vierte Grundbedeutung schließlich, die v. a. das 20. Jahrhundert prägt, engt diesen extrem weiten Begriff wiederum ein auf eine höhere, gleichsam auratische Teilsphäre oberhalb des bloß Zivilisatorischen, Politischen, Wirtschaftlichen und Technischen. Nach diesem vergegenständlichenden Sprachgebrauch besteht Kultur gerade in gewissen objektivierten Produkten und Geltungen, die von den lebendigen Individuen und Kollektiven unabhängig, ja abspaltbar sind. Kultur gilt jetzt als etwas, das man schaffen, fördern und (garstigerweise) als nationalen Besitz verehren kann, nämlich als die höhere, über die Niederungen des bloß Alltäglichen sich erhebende Sphäre der Werte und Werke in Kunst, Literatur, Wissenschaft und Philosophie. In diesem Sinne hat man z. B. die ›Kulturschaffenden‹ oder die ›Vertreter der Kultur‹ den ›Vertretern aus Politik und Wirtschaft‹ entgegengesetzt oder spricht noch heute vom ›Kulturführer‹, vom ›Kulturatlas‹, vom ›Weltkulturerbe‹ usw.

In Georg Simmels Philosophie der Kultur werden nun diese vier historischen Grundbedeutungen verknüpft durch folgende Hauptfragestellung: Was bleiben in unserer durch fortgeschrittene Technisierung und Geldwirtschaft geprägten Kultur3, die eine eigendynamisch expansive Teilsphäre von Kultur4 produziert, dem Individuum für Chancen, seine eigene Natur durch Geistes- und Persönlichkeitskultivierung (Kultur1) zur ganzheitlichen Vervollkommnung (Kultur2) zu bringen? Diese zugespitzte Fragestellung lässt bereits erahnen, dass Simmels ›Tragödie der Kultur‹ nicht etwa den Untergang einer ganzen Kultur in der dritten Bedeutung heraufbeschwört, sondern primär die historisch zunehmende Erschwerung, wenn nicht gar Verunmöglichung individueller Geistes- oder Persönlichkeitskultivierung meint. Nach Simmels Begrifflichkeit könnte es also durchaus wirtschaftlich und militärisch überlegene Nationalkulturen geben, an denen sich gleichwohl gerade die Tragödie der Kultivierung vollzieht. Bevor wir den Vorhang für diese Tragödie aufziehen, empfiehlt sich ein Blick auf Simmels normative Idee individueller Kultur, an der er seine Gegenwart kritisch misst!

2. Simmels Idee individueller Geisteskultur

Wie das im Anhang dargestellte Schema 2 verdeutlicht, versteht Simmel die Kultur im ersten und zweiten Sinne, d. h. die »Vervollkommnung von Individuen«, als eine kreisläufige, »einzigartige Synthese des subjektiven und des objektiven Geistes« (Weibliche Kultur, XIV 417). Hiernach sind drei Größen zu unterscheiden: I. Die Quelle aller Kultur nennt Simmel gelegentlich (mit Hegel) den ›subjektiven Geist‹, d. h. die seelisch-geistige Spontaneität des Individuums, das sich in Auseinandersetzung mit den historischen Äußerungen des menschlichen Geistes formt und dadurch geistig wächst. II. Das Medium aller Kultur nennt Simmel entsprechend den ›objektiven Geist‹ oder, nicht ganz so glücklich, die ›objektive Kultur‹. Dieser Name steht für die entäußerten, objektivierten Gebilde des überpersönlichen Menschengeistes, z. B. für Werke der Kunst, der Literatur und der Philosophie. Es müssen aber nicht unbedingt die Sixtinische Kapelle, der Hamlet oder die Kritik der reinen Vernunft sein, an denen der subjektive Geist sich bildet. Zur objektiven Kultur zählt Simmel z. B. auch religiöse und juristische Texte, ja trivialerweise sogar Möbel, Maschinen und andere Produkte des Menschen. Denn in ihnen allen ist menschlicher Geist und Sinn verkörpert, an denen der Einzelne geistig wachsen kann. III. Die letzte Größe ist schließlich die Einheit von Tätigkeit und Ergebnis, die das Subjekt an den kulturellen Objekten vollzieht, also die ›subjektive‹ oder individuelle Kultur. Individuelle Geisteskultur enthält nach Simmel zum einen die persönliche »Assimilation«, »Aneignung« oder Verinnerlichung von ursprünglich äußerem überpersönlichen Sinn, hierdurch ferner die »innere Verwebung« (XIV 396) des subjektiven Geistes in den symbolischen Kosmos der Gattung, und somit schließlich die Erlangung seelisch-geistigen Wachstums durch innere Differenzierung aufgrund der geistigen Auseinandersetzung. »Der Mensch ist kultiviert, wenn« die »objektiven Güter geistiger oder auch äußerlicher Art in seine Persönlichkeit derart eingehen, daß sie sie über das gleichsam natürliche, rein durch sich selbst erreichbare Maß von Vollendung fortschreiten lassen. Weder was wir ganz von uns selbst aus sind, und sei es durch die größte ethische, intellektuelle, religiöse oder sonstige Anlage, noch was uns an Produkten der Arbeit der Menschheit umgibt, und seien es deren überwältigendste Maße und Perfektionen, bedeutet die Höhe der Kultur, sondern die harmonische Vollendung des ersteren durch die befruchtende innere Assimilation des anderen.« (Die Zukunft unserer Kultur, in: Brücke und Tür, a. a. O., 96) Für diese Idee der Kultur reklamiert Simmel drei wesentliche Punkte:

1. Simmel nennt die individuelle Kultur sehr schön »jenen Weg von sich selbst zu sich selbst«, den »die Seele« für ihre Höherentwicklung oder Selbstkultivierung nehmen muss (XIV 388). Der Weg der Kultur beschreibt gleichsam eine ständig sich erweiternde Spirale der produktiven Einverleibung oder Assimilation fremden Geistes. Und diese kreisläufige Dynamik geistigen Wachstums, dieser »Weg der Seele von sich selbst« weg und »zu sich selbst« zurück, vollzieht sich durch wiederholte Entäußerung der Seele aus ihrem »Naturzustand« durch Hingabe an höhere Dinge und ihre wiederholte Rückkehr zu einem vervollkommneten oder »Kulturzustand« (XIV 395). Der Weg, der den Menschen »zu der vollkommensten Entfaltung seiner eigenen Natur bringt«, muss den Menschen zunächst von sich selbst wegbringen, damit er bereichert zu einem erweiterten Selbst zurückkehren kann (VIII 366). Individuelle Kultur ist also »der Weg von der geschlossenen Einheit durch die entfaltete Vielheit zur entfalteten Einheit« (XIV 387).

2. Weil individuelle Geisteskultivierung in dieser ständigen Selbsttranszendierung besteht, könnte eine Person, die immer nur in ihren eigenen Gefühlen und Gedanken kreist, zwar höchst kreativ werden, nicht aber weitere Kultur gewinnen. Kultur verlangt vielmehr den »Umweg der Seele über ein Außerhalb-ihrer« (VIII 368). Denn »die Formen des Benehmens etwa, die Feinheit des Geschmackes, die sich in Urteilen offenbart, die Bildung des sittlichen Taktes, die den Einzelnen zu einem erfreulichen Mitglied der Gesellschaft macht – dies alles sind Kulturformationen, die die Vollendung des Einzelnen über reale und ideale Gebiete jenseits seiner selbst führen, diese bleibt hier nicht ein rein immanenter Prozess, sondern vollzieht sich in einer einzigartigen Ausgleichung und teleologischen Verwebung zwischen Subjekt und Objekt« (VIII 368). Deshalb ist nach Simmel »Kultur […] immer Synthese«, nämlich »Synthese einer subjektiven Entwicklung und eines objektiven geistigen Wertes«, eine »Verwebung beider« (XIV 397, 399). Kultur »bedeutet diejenige Art der individuellen Vollendung, die sich nur durch Aufnahme oder Benutzung eines überpersönlichen, in irgendeinem Sinne außerhalb des Subjekts gelegenen Gebildes vollziehen kann« (XIV 395). Sie ist »diejenige Vollendung der Seele, die sie nicht unmittelbar von sich selbst her erreicht, wie es in ihrer religiösen Vertiefung, sittlichen Reinheit, primärem Schöpfertum geschieht, sondern indem sie den Umweg über die Gebilde der geistig-geschichtlichen Gattungsarbeit nimmt: durch Wissenschaft und Lebensformen, Kunst und Staat, Beruf und Weltkenntnis geht der Kulturweg des subjektiven Geistes , auf dem er zu sich selbst, als einem nun höheren und vollendeteren zurückkehrt« (XVI 37). Folglich bleibt umgekehrt die Kultur »aus dem Spiele, solange die Seele ihren Weg sozusagen nur durch eigenes Gebiet nimmt und sich in der reinen Selbstentwicklung des eigenen Wesens […] vollendet« (XIV 398). »Wo keine Einbeziehung eines objektiven Gebildes in den Entwicklungsprozeß der subjektiven Seele vorliegt, wo sie nicht über ein solches, als über ein Mittel und Stadium ihrer Vollendung, zu sich selbst zurückkehrt, mag sie Werte des höchsten Ranges in sich oder außer sich realisieren, aber es ist nicht der Weg der Kultur in deren spezifischem Sinne, den sie zurücklegt«. (VIII 368).

3. Für die Kulturidee ebenso wichtig wie die kreisläufige Assimilation objektivierten Geistes ist schließlich auch ihr Ergebnis. Weil Kultur auf die Entfaltung und Vervollkommnung der individuellen Naturanlagen geht, liegt ihr Ziel in der möglichst ganzheitlichen, harmonischen Entfaltung der Persönlichkeit. Damit ist sie das Gegenteil spezialistischer Ausbildung: »Wir sind noch nicht kultiviert, wenn wir dieses oder jenes einzelne Wissen oder Können in uns ausgebildet haben; sondern erst dann, wenn all solches der zwar daran gebundenen, aber damit nicht zusammenfallenden Entwicklung jener seelischen Zentralität dient« (XIV 387). Kultur verlangt vielmehr eine »überspezialistische Vollendung des Individuums«, eine »Vollendung des persönlichen Gesamtseins« (XIV 402). Diese Betonung des überspezialistischen oder ganzheitlichen Charakters scheint der Idee geistiger Kultivierung trotz einer gewissen Vagheit höchst angemessen, denn Kultur, ja schon Bildung, ist nicht die bloß mechanische Anhäufung von Wissen und Können, sondern die organische Anverwandlung des zunächst Fremden in das innere Gewebe der je eigenen Interessen und Lebenserfahrungen. Allerdings neigt Simmel dazu, das teleologische Ideal der durch Kultivierung entfalteten seelischen Ganzheitlichkeit, das den Menschen »zur abgerundeten Vollendung seines zentralen Seins« vorbestimmt (XIV 405), ästhetizistisch und organizistisch zu überfrachten. (Zur Kritik vgl. Hubertus Busche: Was ist Kultur? Zweiter Teil: Die dramatisierende Verknüpfung verschiedener Kulturbegriffe in Georg Simmels »Tragödie der Kultur«, in: Dialektik. Zeitschrift für Kulturphilosophie 2000/2, 5-16).

Simmels Übergang von der Kulturidee zur Kulturkritik besteht nun darin, dass er den zweiten Faktor, also das Medium des objektiven Geistes oder der objektiven Kultur, einer kritischen Gegenwartsdiagnose unterzieht. Seine These von der ›Tragödie der Kultur‹ hängt an folgendem Gedanken: In den bisherigen Menschheitsepochen war der objektive Geist die schlechthinnige Bedingung der Möglichkeit für geistige Kultivierung. Doch seit der industriellen Moderne verändert sich das Gefüge der objektiven Kultur derart, dass es umgekehrt mutiert zu einer Bedingung der Unmöglichkeit für individuelle Kultur (vgl. auch Geßner: Der Schatz im Acker, 179). Der objektive Geist unserer Gesellschaft erlaube keine produktive Aneignung mehr, sondern verstärke vielmehr die Fremdheit zwischen Ich und Welt. Damit sind wir bei der Analyse der Tragödie.

3. Die drei Symptome der ›Tragödie der Kultur‹

Es sind insgesamt drei »Symptome« unserer »erkrankten Kultur« (XVI 39), die nach Simmel zugleich auch Ursachen für die »Tragödie der Kultur« (so der Titel von 1911/12) oder zumindest für die »Krisis der Kultur« (so der Titel von 1916) sind. Der in den Titeln vollzogene Metaphernwechsel von der ›Tragödie‹ zur ›Krisis‹ bezeugt bereits eine gewisse, zumindest partiell eingetretene Entdramatisierung von Simmels Urteil. Die Schauspielmetapher ist noch unüberbietbar pessimistisch, denn zu einer ›Tragödie‹ gehört nun einmal, dass der Held untergeht. Der neue Titel spricht dagegen nur noch von einer »nahenden Krisis unserer Kultur« (XVI 39), gebraucht also die medizinische Metapher vom kritischen Zustand oder Zeitpunkt, an dem sich zeigen muss, ob der Patient überlebt oder nicht. Allerdings fällt der Grund für Simmels Hoffnungsschimmer nicht gerade schmeichelhaft für ihn aus. Denn es ist ausgerechnet der 1. Weltkrieg, von dem er sich noch 1916 eine heilsame pädagogische Wirkung auf die »Genesung« (XVI 39) der Kultur verspricht. Ich klammere im folgenden dieses kühne Rezept von Kulturtherapie ganz aus zugunsten seiner Kulturdiagnose. Die drei ›Symptome‹, die gemeinsam die Tragik bilden, lassen sich vorab in drei Schlagworten und Thesen zusammenfassen:

1. Die Verselbständigung der Mittel zu Zwecken beschreibt Simmel folgendermaßen: »Das ungeheure, intensive und extensive Wachstum unserer Technik – die durchaus nicht nur die Technik materieller Gebiete ist –, verstrickt uns in ein Netzwerk von Mitteln und Mitteln der Mittel, das uns durch immer mehr Zwischeninstanzen von unseren eigentlichen und endgültigen Zielen abdrängt.« (XVI 37 f.)

2. Die fortschreitende Diskrepanz zwischen subjektivem und objektivem Geist besagt folgendes: Seit der Industriellen Revolution entwickle die objektive Kultur gegenüber der subjektiven zum einen eine »qualitative Fremdheit«, zum anderen eine »quantitative Unbeschränktheit, mit der sich Buch an Buch, Erfindung an Erfindung, Kunstwerk an Kunstwerk reiht – eine sozusagen formlose Unendlichkeit, die mit dem Anspruch, aufgenommen zu werden, an den Einzelnen herantritt. Dieser aber, in seiner Form bestimmt, in seiner Aufnahmefähigkeit begrenzt, kann dem nur in ersichtlich immer unvollkommener werdendem Maße genügen. So entsteht die typisch problematische Lage des modernen Menschen: das Gefühl, von dieser Unzahl von Kulturelementen wie erdrückt zu sein, weil er sie weder innerlich assimilieren noch sie, die potentiell zu seiner Kultursphäre gehören, einfach ablehnen kann« (XVI 38 f.; ähnlich XIV 412). In diesem expandierenden Universum der objektiven Kultur werde das Individuum zum Fremdling im eigenen Hause.

3. Die Dissoziation der Gebiete der objektiven Kultur besteht nach Simmel schließlich darin, dass die »immanente Entwicklungslogik« der objektiven Kultur unter industriellen Bedingungen »die einzelnen Zweige der Kultur« wie Religion, Wissenschaft, Kunst, Recht und Wirtschaft »zu einer Richtungsverschiedenheit und gegenseitigen Entfremdung auseinanderwachsen« lässt, so »daß sie als Gesamtheit eigentlich schon vom Schicksal des babylonischen Turmes ereilt und ihr tiefster Wert, der gerade in dem Zusammenhang ihrer Teile besteht, mit Vernichtung bedroht scheint« (XVI 51 f.).

Diese drei modernen Tendenzen werden nach Simmels Analysen in früheren Schriften alle hervorgerufen durch das exponentielle Wachstum der gesellschaftlichen Binnendifferenzierung, das sich aus der industriellen Arbeitsteilung und der Technisierung ergibt. Deren Grundlage wiederum ist, was Simmel in der Philosophie des Geldes die »fortgeschrittene Geldwirtschaft« nennt, d. h. der Kapitalismus (vgl. insbesondere V 560-582 u. VI 617-654). Simmel bleibt auch später dieser Kausalanalyse treu, obwohl er seine in den frühen Schriften formulierte, an den Marx der Pariser Manuskripte angelehnte Vision einer Kultur, die sich innerhalb der Sphäre beruflicher Produktion erwerben ließe, stark relativiert. (Dies übersieht etwa Hartmut Scheible: Simmel und die »Tragödie der Kultur«, in: Neue Rundschau 91 [1980], 133-164), der Simmels unmittelbar von der Ökonomie her deutet.)

Im Geflecht der genannten drei Tendenzen sieht Simmel ein echt »tragisches Verhängnis«. Wie er nämlich im Rückgang auf die griechische Tragödie erläutert, ist »im Unterschied gegen ein trauriges oder von außen her zerstörendes« Geschehen das tragische Geschehen genau dadurch charakterisiert, »daß die gegen ein Wesen gerichteten Kräfte aus den tiefsten Schichten eben dieses Wesens selbst entspringen; daß sich mit seiner Zerstörung ein Schicksal vollzieht, das in ihm selbst angelegt und sozusagen die logische Entwicklung eben der Struktur ist, mit der das Wesen seine eigene Positivität aufgebaut hat« (XIV 411). Simmels später noch zu kritisierende These besagt also, dass die Kultur nicht an äußeren Faktoren, sondern an ihrer eigenen Entwicklungslogik zugrunde geht. (An dieser kausalen Immanenz des Tragischen geht man völlig vorbei, wenn man das »Wesen des Tragischen« verflacht zu einer »Situation, in der ein Mensch dem Scheitern ausgesetzt ist«; so Keung-Ja Hong: Eine Untersuchung über Begriff und Theorie des Tragischen bei Karl Jaspers und Georg Simmel, Diss. phil. Münster 1999, 7.) Gleichwohl bleibt schon bei Simmel selbst undeutlich, inwieweit und inwiefern diese Tragödie notwendig in einem Untergang endet.

Einerseits schreibt Simmel pessimistisch: »Wir werden [...] dieser Tragödie und chronischen Krisis aller Kultur auf die Dauer nicht entgehen. Aber für eine gewisse Periode« – und Simmel denkt hier in der Tat an den Weltkrieg – »wird ihr Fortschritt gehemmt, ihre Schärfe gemildert werden« (XVI 51). Andererseits heißt es jedoch nicht ohne Hoffnungsschimmer: »Dies alles sind Widersprüche, die wohl von der Kulturentwicklung als solcher unabtrennlich sind. Sie würden [!] in restloser Konsequenz diese Entwicklung an den Punkt des Untergangs führen, wenn nicht das Positive und Sinnvolle der Kultur immer wieder [!] Gegenkräfte einzusetzen hätte« (XVI 52).

Im folgenden sind nun die drei Faktoren der Tragödie näher zu erläutern und zu beurteilen.

a. Verselbständigung der Mittel zu Zwecken?

Diese These wird in der Forschung oft unkritisch nachgesprochen, ohne dass gefragt würde, ob sie zutrifft. Die gesellschaftliche Grundlage des behaupteten Phänomens ist gewiss unstrittig, nämlich die moderne, durch Arbeitsteilung und Technisierung hervorgerufene Komplexitätssteigerung der gesellschaftlichen Zweck-Mittel-Reihen: Einerseits haben wir unser Alltagsleben enorm entlastet, indem wir unsere Grundbedürfnisse nach Nahrung, Kleidung, Wohnung usw. kaum noch selbst besorgen. Statt selbst auf die Jagd zu gehen, Bärenfelle zu gerben und ein Haus mit eigenen Händen zu bauen, lassen wir diese Mühen von beruflichen Spezialisten erledigen, und geben ihnen dafür Geld, das wir uns wiederum verdienen durch unsere spezielle Erwerbsarbeit. Die dadurch hervorgerufene Abhängigkeit von anderen mag oft ärgerlich sein, v. a. wenn es sich um Handwerker handelt, aber sie bedeutet im ganzen eher eine Entlastung für unsere eigenen, möglicherweise höheren Zwecke. Andererseits wird man nicht leugnen können, dass es innerhalb der Dialektik von arbeitsteiliger Entlastung und abhängigkeitsbedingter Neubelastung ein starkes technogenes Wachstum immer neuer Mittel gibt, die im Alltag bewältigt, beherrscht oder auch gekauft sein wollen, wenn man gesellschaftlich anschlussfähig bleiben will. Zu Simmels Zeiten waren das vielleicht das Auto und die Schreibmaschine, bei uns sind es etwa der PC und das Telefon, das Handy und das Fax-Gerät.

Doch diese funktionalen Verstrickungen in technische Abhängigkeiten sind es gar nicht als solche, die Simmel als Gefahr für die geistige Kultur vor Augen hat. Seine Verselbständigungsthese besagt nicht etwa: Die multiplizierten Anforderungen an technisches Können, Wissen und Haben, denen der einzelne in Alltag und Beruf genügen muss, lassen ihm kaum noch Zeit und Energie für höhere Interessen. Dieser Aspekt, der durchaus erwägenswert ist, bildet nicht das Argument von Simmel. Was er mit der Verselbständigungsthese behauptet, ist vielmehr der psychische Aspekt, dass angeblich »soundso viele bloße Mittel in die psychologische Würde von Endzwecken aufrücken« (XVI 39), indem sie »für unser Bewußtsein völlig den Charakter eines definitiven, für sich befriedigenden Wertes annehmen« (VI 294). Diese Behauptung scheint jedoch anfechtbar, zumal die Terminologie von Zweck und Mittel ohnehin leicht aufs Glatteis führt, da bis auf echte Endzwecke wie Glück oder Gesundheit jeder Zweck innerhalb der Finalketten zweckrationaler Praxis wieder als Mittel betrachtet werden kann. Was Simmel genau behauptet, zeigt das folgende Zitat. Die moderne, technogen komplexitätsbedingte »Unabsehbarkeit der Zweck- und Mittelreihen erzeugt die unendlich wirkungsvolle Erscheinung, daß irgendwelche Mittelglieder in ihnen für unser Bewußtsein zu Endzwecken werden: Unzähliges erscheint uns, während wir es erstreben, und vieles sogar noch, wenn wir es erreicht haben, als ein befriedigendes Definitivum unseres Willens, was sachlich ein bloßer Durchgangspunkt und Mittel für unsere wirklichen Zwecke ist« (XVI 37).

Das Problematische an dieser These ist bereits folgendes: Woher weiß Simmel eigentlich, was unsere wirklichen Zwecke sind? Haben wir überhaupt alle dieselben Lebensziele? Schon Aristoteles hatte das verneint und auf die Pluralität von Lebensformen hingewiesen, auch wenn diese auf verschiedenen Niveaus des Menschseins liegen. Hiernach dürfte es immer einen merkwürdigen Menschenschlag geben, der, obwohl er es nicht nötig hätte, den Erwerb von Reichtum zum letzten Sinnhorizont macht, einen zweiten, der das angenehme Leben mit viel sinnlicher Lust sucht, einen dritten, der den Lebenssinn im politischen Engagement sucht, und einen vierten, der von der Leidenschaft an der Theorie oder insgesamt an der geistigen Kultur getrieben wird (Aristoteles: Nikomachische Ethik, I 3). Bei Simmel fehlt eine solche plurale Teleologie menschlicher Lebensformen. Statt dessen dekretiert er für alle Menschen nur ein einziges Ziel und Zentrum, nämlich die geistige Kultur:

Das »Übergewicht der Mittel über die Zwecke findet seine Zusammenfassung und Aufgipfelung in der Tatsache, daß die Peripherie des Lebens, die Dinge außerhalb seiner Geistigkeit, zu Herren über sein Zentrum geworden sind, über uns selbst.« Sieht man auf die Technik als ganze, »so kostet jenes Verfügenkönnen über die äußere Natur, das die Technik uns einträgt, den Preis, in ihr befangen zu sein und auf die Zentrierung des Lebens in der Geistigkeit zu verzichten« (VI 672).

Durch diese uniformierende Festlegung aller Menschen auf die Entscheidung für ein geistiges Leben diagnostiziert Simmel jedenfalls teilweise als Verfalls- und Krankheitserscheinung, was in Wahrheit nur Ausdruck der für Intellektuelle vielleicht betrüblichen, aber doch wohl epochen-unabhängigen Tatsache sein dürfte, dass den meisten Menschen die Geisteskultur ohnehin viel zu anstrengend ist. Die dadurch entstehende Fehldiagnose zeigt sich deutlich an Simmels Hauptbeispiel für seine Verselbständigungsthese. Es ist das Geld, das für Simmel »das umfassendste weltgeschichtliche Beispiel« der behaupteten Verselbständigung darstellt. Zunächst bloßes »Mittel für Tausch und Wertausgleich«, sei es inzwischen »für die Mehrzahl der Kulturmenschen das Ziel aller Ziele geworden«. (XVI 46). Mir scheint das eine schiefe Behauptung zu sein, auch wenn ich nicht leugnen will, dass es viele negative Auswüchse der modernen Geldwirtschaft gibt.

Was Simmel in diesem Zusammenhang tatsächlich beschreibt, ist lediglich die enorme Bedeutsamkeitssteigerung, die das Geld in der modernen Welt erfährt. Weil das Geld für jeden Einzelnen zur vielleicht größten schicksalhaften irdischen Macht überhaupt geworden ist, hat Kenneth Burke in den sechziger Jahren das Geld zum »god term« erklärt (A Grammar of Motives, New York 1962, 355 f.). Und noch Luhmann hat in seinem letzten prähum veröffentlichten Buch die These vertreten, »das Geld scheint auf dem Wege zu sein, das Medium schlechthin zu werden«, nämlich das Medium, das auf alle gesellschaftlichen Funktionssysteme übergreift (Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997, 723). Ein Hauptgrund für diese ungeheure Bedeutsamkeitssteigerung des Geldes liegt darin, dass es nach dem historischen Übergang von der agrarisch statischen Bedarfsdeckungswirtschaft zur industriellen Lohn- und Entgeltungswirtschaft kaum noch Selbstversorger gibt. Damit brauchen fast alle das Geld als unentbehrliches Mittel der Existenzfristung. So ungemütlich und beklagenswert diese fast vollständige Geldvermitteltheit unseres Alltags auch sein mag, so ist sie doch in keiner Weise angemessen beschrieben als eine psychische Verselbständigung des Geldes zu einem ›Zweck‹ oder ›für sich befriedigenden Wert‹. Die Leute hängen am Geld nicht, weil es das ›Ziel aller Ziele‹ geworden wäre, sondern weil es das Mittel aller Mittel geworden ist, das die größte Tauschkapazität zur Realisierung immer neuer, und zwar selbstgesetzter Zwecke besitzt. Und wenn man davon ausgeht, dass die meisten Menschen in Antike wie Gegenwart das angenehme Leben und nicht das anstrengende Glück geistiger Kultur suchen, dann lieben sie das Geld allenfalls deshalb, weil es das Universalmittel zur Realisierung so vieler ungeistiger Zwecke ist. Simmels Behauptung dagegen, das Geld habe sich in der Moderne zum Endzweck verselbständigt, scheint ähnlich absurd wie die Behauptung, dass ein mittelalterlicher Bauer, der aus Not tags und nachts mit der Bewirtschaftung seines Hofes beschäftigt ist, damit den Hof zum Selbstzweck macht.

Natürlich muss man gerade heute zu Recht beklagen, dass zumal die Heranwachsenden durch eine kulturfeindlich hedonistische Bedürfniskonditionierung der Massenmedien darin beeinträchtigt werden, sich positiv mit dem etwas herberen Gegenglück der Kunst, der Wissenschaften oder der Philosophie zu identifizieren. Doch dies ist weder das Simmelsche Argument, noch wäre es angemessen beschrieben als eine Verselbständigung des Geldes zum Endzweck.

Ähnlich schwach scheint mir auch Simmels zweites Beispiel für die Verselbständigungsthese zu sein, nämlich die Überbewertung der Technik selbst: »Ein ungeheurer Prozentsatz der Kulturmenschen bleibt ihr Leben lang in dem Interesse an der Technik, in jedem Sinne des Wortes, befangen«, so dass ihre »Endabsichten« und »wirklichen Ziele dem Bewußtsein völlig entschwinden« (VI 297). So übersehe etwa der »Enthusiasmus« über die »Fortschritte« der elektrischen »Beleuchtung«, »daß das Wesentliche doch nicht sie [die Beleuchtung], sondern dasjenige ist, was sie besser sichtbar macht; der förmliche Rausch, in den die Triumphe von Telegraphie und Telephonie die Menschen versetzt haben, läßt sie oft übersehen, daß es doch wohl auf den Wert dessen ankommt, was man mitzuteilen hat […]« (VI 671).

Natürlich ist Simmel völlig Recht zu geben, dass es manchenorts eine gewisse Fetischisierung der Technik gibt. Doch erstens dürfte ein gewisser Hang zur begeisternden Versenkung des Interesses in gewisse wirkungsvolle Objekte nicht erst das Produkt moderner Verhältnisse sein, sondern vermutlich etwas Allgemeinmenschliches (zumindest etwas Allgemeinmännliches!). Zweitens dürfte dieser Hang zur Technikbegeisterung eine notwendige seelische Bedingung für den technischen Fortschritt selbst sein. Und drittens dürfte er auch keine ungünstige Bedingung für die Erwerbung technischer Sachkenntnis darstellen, und diese dürfte wiederum ja sogar etwas mit einem Teilgebiet geistiger Kultur zu tun haben. Simmels Abqualifizierung der Technikbegeisterung als einer Verselbständigung der Mittel zu Zwecken erinnert mich deshalb stark an das Ermahntwerden des archaischen Herstellers von Jagdspeeren durch den verständnislosen Schamanen, wie er nur so viel psychische Aufmerksamkeit verschwenden könne auf die Verbesserung der Speerspitzen und der Wurftechnik, wo doch der eigentliche Wert von Jagdspeeren nur darin bestehe, dass sie die Büffel töten.

Natürlich kann man insgesamt, erst recht 90 Jahre später, den Wert der Technik und zumal der wirtschaftsbedingten entfesselten Eigendynamik technischer Innovationen für den Menschen in Frage stellen. Ferner wird man Simmel sogar völlig Recht bei seiner Beobachtung geben müssen, dass »die Geistigkeit und Sammlung der Seele […] von der lauten Pracht des naturwissenschaftlich-technischen Zeitalters übertäubt« wird (VI 675). Doch die Ursache für diese und ähnliche Entwicklungen dürfte nicht in einer psychologischen Verselbständigung ursprünglicher Mittel liegen, sondern dürfte viel angemessener beschrieben sein als die industriell bedingte Multiplikation der Mittel aufgrund der exponentiellen Komplexitätssteigerung im gesellschaftlichen System der Mittel. Damit sind wir aber bei Simmels zweiter These, die von ganz anderer Qualität zu sein scheint.

b. Die fortschreitende Diskrepanz zwischen subjektivem und objektivem Geist

Mit dieser zweiten These scheint mir Simmel sogar in das geheime Zentrum unserer ganzen modernen und postmodernen Orientierungsprobleme vorgedrungen zu sein. Der Grundgedanke ist eigentlich trivial, aber doch von kaum zu überschätzender Bedeutung: Seit der Industrialisierung wächst mit exponentieller Beschleunigung die Menge der Waren, der technischen Erfindungen und wissenschaftlichen Entdeckungen, der Informationen und der Medien. Mit der Wachstumsgeschwindigkeit dieses expandierenden Universums zivilisatorischer Produkte kann aber der Einzelne nicht mithalten. Seine seelische und geistige Kraft zur Aneignung ist bald überfordert, trotz der zunehmenden Intellektualisierung der Menschen in westlichen Gesellschaften. »Was uns an Geräten und Techniken dient, was sich an Kenntnissen und Künsten, an möglichen Lebensstilen und Interessiertheiten bietet, hat durch die Arbeitsteilung der letzten Jahrhunderte eine unerhörte Vielfältigkeit gewonnen. Allein die Fähigkeit des Individuums, dies Material zu persönlicher Kultivierung zu verwenden, kommt diesem Wachstum nur sehr langsam, und immer weiter hinter ihm zurückbleibend, nach. Wir können all jenes, wie durch ein unaufhaltsames und gegen uns gleichgültiges Schicksal sich Vermehrendes, nicht mehr in unser Sein aufnehmen; es lebt ein rein sachlich entwickeltes Leben für sich, das wir zum allergrößten Teil nicht einmal verstehen können. […] Die eigentlichen Kulturnöte des modernen Menschen gehen auf diese Diskrepanz zwischen der objektiven Kultursubstanz an Greifbarkeiten und Geistigkeiten auf der einen Seite und der Kultur der Subjekte auf der andern zurück, die sich gegen jene fremd, von ihr vergewaltigt, unfähig zu gleichem Fortschrittstempo fühlen« (Die Zukunft unserer Kultur, in: Brücke und Tür, a.a.O., 95 f.).

Exemplarische Folgen dieser fortschreitenden, zunächst rein quantitativen Disproportionierung sind erstens die Herrschaft von Spezialisten und Expertokraten, zweitens die Schwierigkeiten des Einzelnen, sich im verkomplizierten Netz gesellschaftlicher Institutionen zu orientieren oder gar zwecks selbständiger Urteilsbildung einen abstrakten Überblick über die Entwicklung unseres Planeten zu gewinnen, und hieraus drittens das weitverbreitete Lebensgefühl einer technogenen, tachogenen und komplexogenen Fremdheit und Verlorenheit auf Erden. Obwohl die nachsimmelsche Kulturkritik diese Phänomene bis zum larmoyanten Überdruß ausbuchstabiert und popularisiert hat, sollten wir nicht – in trotzigem Widerspruchsgeist – die Helden spielen wollen und leugnen, dass dies in der Tat Grundprobleme unserer Seele im technischen Zeitalter sind. Schon einige wenige Aspekte dieses höchst diffizilen Zusammenhangs zeigen, dass Simmel mit seiner Sorge um das Schicksal der geistigen Kultur keineswegs bloß mögliche Luxuswehwehchen bei der schöngeistigen Bildung höherer Töchter vor Augen hat.

Wer könnte 90 Jahre nach Simmels Kulturkritik kein Verhängnis erblicken im teilweise schon grotesken Grad an arbeitsteiliger Blickverengung bei uns Spezialisten, d. h. Leuten, die von immer weniger immer mehr verstehen, bis sie schließlich von nichts alles wissen? (Zum Spezialistentum vgl. XIV 410 u. 412.) Man denke nicht nur an die praktischen Folgen dieses Spezialisierungsdrucks bei Juristen oder Medizinern, sondern auch an die theoretische Isolation und Kommunikationserschwerung unter den Wissenschaftlern, sogar innerhalb einer Disziplin, z.B. in der Mikrophysik oder Kosmologie. Dieser Gesamttendenz zur Einschrumpfung und Parzellierung geistiger Kompetenz in Gestalt von Fachidioten kann sich der Einzelne auch bei größter Anstrengung und bei größter Liebe zu enzyklopädischer Vielseitigkeit kaum entziehen. Er droht entweder zum bloßen Mehr-fach-idioten oder zum dilettantischen Stümper von universalem Halbwissen auf vielerlei Gebieten zu werden. Bedenkt man allein die vielzitierte Informationsflut der öffentlichen Medien, so gab es niemals ein Zeitalter, das einen größeren Turm voll gespeicherter Informationsdaten gebaut hätte als das unsrige. Doch dieser Turm ist von keinem Individuum mehr bewohnbar. Denn in Relation zu der steigenden Fülle möglicher Informationen schrumpft der wirkliche Horizont des einzelnen immer mehr, auch wenn der durchschnittliche Verstandeshorizont vielleicht sogar größer sein mag als der früherer Zeiten. Dass der Einzelne sich von diesem explodierenden »Vorrat des objektivierten Geistes« nicht mehr in Besitz zu setzen weiß, sondern von »Gefühlen« der »Unzulänglichkeit und Hilflosigkeit« geschlagen wird, fasst Simmel in das umgekehrte Franziskanermotto: »omnes habentes, nihil possidentes« (XIV 412). Es ist dieses Gefühl des Verhungerns in der Fülle, das bereits den interessierten Besucher der Frankfurter Buchmesse angesichts der Unüberschaubarkeit der neuen Titel beschleicht, falls er den Fehler begeht, alle Titel für möglicherweise wichtig zu erachten!

Die Radikalität des Problems zeigt, dass es Simmel nicht um die weinerliche Spezialklage geht, wonach die philosophischen Universalgenies aussterben, die wie Aristoteles oder Leibniz die wissenschaftliche Kultur ihres Zeitalters nicht nur überblickten, sondern sogar befruchteten. Simmel diagnostiziert nicht bloß unsere Gesamttendenz zur geistigen Verzwergung. Er befürchtet am Ende vielmehr eine schleichende Auflösung der Orientierung in geistige Beziehungslosigkeit. Während die objektive Kultur »einer unbegrenzten Verfeinerung, Beschleunigung und Ausdehnung fähig ist«, bleibt »die Kapazität der einzelnen Subjekte unvermeidlich einseitig und beschränkt«. Deshalb »sehe ich nicht, wie dem Entstehen einer Zusammenhangslosigkeit, eines gleichzeitigen Ungenügens und Überfülltseins prinzipiell vorzubeugen wäre« (XVI 40). In der Tat scheint es für das Individuum immer schwerer zu werden, einen Zusammenhang im ganzen herzustellen, und nur noch wenigen gelingt – aufgrund privilegierter Bedingungen von Talent und Erziehung – in der Informationsflut eine abstrakte Verarbeitung.

Simmels Behauptung, dass diese Entfremdungsphänomene bei der Orientierung auch auf das Lebensgefühl durchschlagen, lässt sich ebenfalls kaum leugnen. Wir wohnen nicht mehr, wie unsere Vorfahren, in dauerhaften und überschaubaren Formen, sondern sehen uns einer erschlagenden Vielzahl unvertrauter Objekte und Funktionsabläufe gegenüber, die sich zudem immer schneller wandeln aufgrund der technischen Innovationsrasanz. Ein Mensch, der sich zur Wiedererlangung geistiger Kreativität für 10 Jahre in die Einsamkeit zurückgezogen hätte, käme kaum noch zurecht bei seiner Rückkehr in die Gesellschaft, nicht einmal dann, wenn er, weil er die Menschen dann immer noch so liebte, etwa seine Tante mit dem ICE und der U-Bahn besuchen wollte oder gar aus dem ICE telefonieren oder eine SMS schicken wollte. Das Beispiel deutet nur an, welche Unsummen von technisch materialisiertem Wissen täglich unsere Aufmerksamkeitsenergie beanspruchen, ohne dass wir die Zusammenhänge im einzelnen verstünden. Simmels Chiffre, dass wir zunehmend Fremdlinge im eigenen Hause würden, lässt sich nicht einmal im wörtlichen Sinne leugnen, nachdem Großmutters vertrauter Herd ersetzt ist durch die komplizierte High-tech-Küchenzeile und nachdem Papier und Feder optimiert sind durch PC und Laserdrucker.

Insgesamt scheint also Simmels zweite These unbezweifelbar, »daß die objektive Kultur sich in einem Maß und Tempo entwickelt, mit dem sie die subjektive Kultur weit und weiter hinter sich läßt« (XVI 51). »Die Formlosigkeit des objektivierten Geistes als Ganzheit gestattet ihm ein Entwicklungstempo, hinter dem das des subjektiven Geistes in einem rapid wachsenden Abstand zurückbleiben muß.« (XIV 414 f.) Ferner leuchtet auch ein, dass Simmel allein in diesem Antagonismus oder »Widerspruch« bereits »die eigentliche und durchgehende Tragödie der Kultur« erblickt (XVI 42). Die Kardinalfrage ist jedoch, wie weit die von ihm so hellsichtig beschriebene Disproportionierungsschere, falls sie überhaupt irreversibel sein sollte, in dem Sinne ›tragisch‹ genannt werden kann, dass sie zum Untergang individueller Kultur führen müsste.

Mir scheint, dass Simmel trotz aller bestechenden Weitsicht die Lage schon dadurch dramatisiert, dass er einen völlig aufgeblähten Begriff von ›objektiver Kultur‹ zugrunde legt. »Die Dinge, die unser Leben sachlich erfüllen und umgeben, Geräthe, Verkehrsmittel, die Produkte der Wissenschaft, der Technik, der Kunst – sind unsäglich kultivirt [!], aber die Kultur der Individuen, wenigstens in den höheren Ständen, ist keineswegs in demselben Verhältniß vorgeschritten, ja vielfach sogar zurückgegangen« (V 561). Mit Nietzsche etwa wäre zurückzufragen, ob nicht der Kulturpathologe Simmel selbst an der historischen Krankheit leidet, wenn er den ganzen Wust menschlicher Produkte von Altägypten bis Neu-Berlin, von trivialster Fabrikware bis zu van Goghs »Sonnenblumen«, auf den erhabenen Namen »objektiver Kultur« tauft, um dann darunter zu leiden, dass der Einzelne dies alles nicht mehr geistig assimilieren kann. Warum aber sollte man überhaupt die niedrigsten kommerziellen Erzeugnisse des gemeinsten Menschengeistes, warum den ganzen Schund und Trash der Massenmedien auch nur zur Kenntnis nehmen müssen, nur weil sie prinzipiell zur menschlichen ›Kultursphäre‹ im Sinne der eingangs erläuterten dritten Grundbedeutung gehören? Als ob es ein Zeichen von geistiger Kultur wäre, wenn man den x-beliebigen gemalten Sonnenuntergang irgendeines viertklassischen Pinselschinders mit eigenen Augen sieht!

Hier zeigt sich erstens, dass Simmels ganze Vision vom verlorenen Wettlauf der kleinen subjektiven Kultur mit der großen objektiven Kultur auf einer Äquivokation beruht: Was vom Einzelnen nicht mehr assimiliert werden kann, ist nicht etwa eine fortgeschrittene ›Kultur‹ der Objekte, sondern einfach die rasant gesteigerte Vielfalt an Produktionen innerhalb der fortgeschrittenen ›Gesellschaft‹. Aufgrund dieser Äquivokation scheint auch Simmels Behauptung nicht verteidigungsfähig, dass die von ihm beschriebenen Prozesse ein echt ›tragisches Verhängnis‹ darstellen. Falls der befürchtete Untergang wirklich einträte, so wäre die Kultur nicht an sich selbst zugrunde gegangen, sondern allenfalls an der modernen Gesellschaft. Damit scheint aber gerade die Kernthese der ›Tragödie der Kultur‹, der zufolge hier »die gegen ein Wesen gerichteten Kräfte aus den tiefsten Schichten eben dieses Wesens selbst entspringen« (XIV 411), eine ästhetische Mystifikation zu sein, trotz der brillanten Beobachtung der unter sie subsumierten Phänomene. (Zur Kritik von Simmels Tragizismus von anderer Seite vgl. Ernst Cassirer: Die »Tragödie der Kultur«, in: ders.: Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien (Göteborg 1942), Darmstadt 1994, 103-127; sowie: Birgit Recki: »Tragödie der Kultur« oder »dialektische Struktur des Kulturbewußtseins« Der ethische Kern der Kontroverse zwischen Simmel und Cassirer, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie [2000] 2, 157-175).

Simmels begriffliche Stilisierung der Sphäre gesamtgesellschaftlicher Produktionen zu einer Sphäre ›objektiver Kultur‹ zieht zweitens auch die Einseitigkeit nach sich, dass Simmel auf ein Kapazitätsproblem der Individuen reduzieren muss, was sich näherbetrachtet als ein Selektionsproblem darstellt. Es scheint, dass gerade an dieser Fähigkeit zur glücklichen Selektion die Schicksals- und Überlebensfrage für die individuelle Geisteskultur, ja sogar für das geistige Immunsystem der Menschen hängt. Für eine solche wählerische Unterscheidung und Bevorzugung dessen, was aus der gigantischen Unmenge der gesellschaftlichen Produktionen überhaupt wichtig und würdig ist für geistige Assimilation, braucht das Individuum allerdings zwei Fähigkeiten: erstens Urteilskraft für die Erkenntnis dessen, was die Menschen – pathetisch gesprochen – höher und besser macht, und zweitens Widerstandskraft gegen die kulturfeindliche Innenweltverschmutzung durch die massenmediale Bedürfniserzeugungsindustrie. Hier ergibt sich allerdings das Problem, dass diese beiden Kardinaltugenden postmoderner Geisteskultur nicht einfach als natürliche Ressourcen vorausgesetzt werden können, sondern ihrerseits bereits Produkte von geistiger Kultur sind. Und deshalb scheint sich die zentrale Frage, ob Simmel wirklich einen langfristigen tragischen Untergang oder nur einen dramatischen Gestaltwandel von Kultur beschreibt, auf die Kernfrage zuzuspitzen, ob in postmodernen Gesellschaften Menschen gedeihen können, die diese Kräfte entwickeln. Dass es durch die Datenflut zwangsläufig zu einer Erosion der Urteilskraft kommen müsse, scheint mir ebensowenig ausgemacht, wie dass es durch das Dauerbombardement mit Informationen und Unterhaltungsmüll zu einer geistigen Abwehrschwäche kommen müsse.

Simmel selbst deutet den Zusammenhang zwischen den möglichen Überlebenschancen geistiger Kultur und dem Nachwachsen neuer Fähigkeiten bei den Individuen immerhin an: »Keine Kulturpolitik kann jene tragische Diskrepanz zwischen der unbegrenzt vermehrbaren objektiven und der nur sehr langsam zu steigernden subjektiven Kultur beseitigen; aber sie kann an ihrer Minderung arbeiten, indem sie die Individuen befähigt, die Inhalte der objektiven Kultur, die wir erleben, besser und schneller als bisher zum Material der subjektiven zu machen […]« (Die Zukunft unserer Kultur, in: Brücke und Tür, a.a.O., 97). Wer dies für eine »defensive Haltung« hält (so Ursula Menzer: Subjektive und objektive Kultur. Georg Simmels Philosophie der Geschlechter vor dem Hintergrund seines Kulturbegriffs, Pfaffenweiler 1992, 65), der möge doch angeben, worin eine offensive Haltung in diesem Punkt bestehen soll. Allerdings setzt diese Hoffnungsperspektive gerade voraus, dass zu den verbesserten Fähigkeiten künftiger Individuen auch eine gesteigerte Klarheit darüber gehört, was zur Kultur gehört und was zu den toten Auswürfen der industriellen Produktionstechnik.

Einen Punkt muss man Simmel jedoch, mit ihm über ihn hinausdenkend, einräumen, und es ist schade, dass ich ihn hier aus Zeitgründen nicht verdeutlichen kann anhand der psychologisch-pädagogischen Gegenwartsdebatten zum beschleunigten Zeitbewusstsein, nämlich dass der Zuwachs an technisch-medialer Komplexität und an gesellschaftlichem Tempo zu einer massiven Schwerpunktverlagerung innerhalb der geistig assimilierten Inhalte führen wird: Individuelle Geisteskultur wird, unter den Bedingungen jener von Simmel eindrucksvoll beschriebenen »Beschleunigung des Lebenstempos« (VI 699), immer weniger aus langen Büchern und Gesprächen schöpfen können und folglich immer weniger aus prägenden Zitaten und Grundgedanken im Langzeitgedächtnis bestehen können, sondern immer mehr bestehen müssen aus dem Know-how rascher Zugriffstechniken und abstrakter Transferleistungen. Und vielleicht ist dies die schmerzlichste Folge des Umbruchs von der Agrargesellschaft zur high-tech-medialen Variante von Industriegesellschaft: dass – in Ciceros Metaphorik – die pflegende Sorgfalt bei der Bearbeitung des eigenen Geistesackers immer weniger heimische Vertrautheit an Saat und Scholle findet und immer mehr an der Technik von Saat- und Erntemaschinen.

3. Die Dissoziation der Gebiete der objektiven Kultur

Das 3. Symptom schließlich, an dem Simmel die individuelle Geisteskultur kranken sieht, besteht in der fortschreitenden Dissoziation jener gesellschaftlichen Objektivationssphären, die Simmel auf den Namen »objektiver Kultur« tauft. Dieses Auseinanderdriften beschreibt er auch so, dass die einzelnen »Kulturgebiete sich in einer gegenseitigen Unabhängigkeit und Fremdheit entwickelt haben« (XVI 49), und er erklärt sich diese gegenseitige Isolierung und Entfremdung kausal aus der spezialistischen, »rein sachlichen Entwicklungslogik« (XIV 413), der die Funktionalität und Technik jedes einzelnen Gebietes gehorcht. Als Beispiele dieser »immanenten Entwicklungslogik« nennt Simmel etwa die Wirtschaft, die nicht mehr gegebene Bedürfnisse abdeckt, sondern um der kommerziellen Logik der Gewinnmaximierung willen neue »Bedürfnisse wachrufen« muss (XIV 408 f.), oder die Wissenschaft, die selbst das »überflüssige Wissen« prämiert, wenn es nur neu ist und der »sachlichen Norm« oder der »philologische[n] Technik« genügt (XIV 409 f.), aber auch die Kunst, die ihrer »eigenen Sachlogik« gehorcht (XIV 410).

Ganz offensichtlich beschreibt Simmel hier in unzulänglicher Theorie dasjenige, was die Luhmannsche Systemtheorie als Ausdifferenzierung autonomer und autopoietischer Funktionssysteme der modernen Gesellschaft interpretiert. Recht, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst, Erziehung, Religion oder Politik der Gesellschaft gehorchen inzwischen wohl einer funktionalen Eigengesetzlichkeit und Systemrationalität, die nach exklusiven Codes und eigenen Medien operieren. Simmels Hinweis auf die »Richtungsverschiedenheit« (XVI 51) dieser Funktionssysteme ist völlig zutreffend, da sie ja unterschiedliche Methoden internalisiert haben, hochspezielle Teilprobleme der Gesellschaft zu bewältigen. Gleichwohl leuchtet seine Anspielung auf den Turmbau zu Babel nicht ein, der zufolge die einzelnen Bereiche »als Gesamtheit eigentlich schon vom Schicksal des babylonischen Turmes ereilt [scheinen] und ihr tiefster Wert, der gerade in dem Zusammenhang ihrer Teile besteht, mit Vernichtung bedroht scheint« (XVI 51 f.). Denn schief bleibt der implizite Vergleichspunkt, die Aufsplitterung der gemeinsamen Ursprache in eine Vielzahl von Sprachen. Man könnte nämlich mit Luhmann durchaus einräumen, dass die Funktionssysteme unserer insgesamt zentrumslos gewordenen Gesellschaft sich – wie die Köpfe einer Hydra – wechselseitig beobachten und irritieren, ohne dass sie sich gegenseitig instruieren könnten. Und man dürfte ferner einräumen, dass das Recht eine völlig andere Sprache spricht als etwa die Kunst oder die Religion. Die Frage ist jedoch, welchem Subjekt man diese Vielsprachigkeit beilegt. Das Bibelwort, »daß keiner des anderen Sprache verstehe« (1. Mos. 11, 7), gilt zwar für die einzelnen Funktionssysteme als solche, nicht jedoch für die Individuen, die in irgendeinem Grad an allen Teilsystemen partizipieren und deshalb auch alle Teilsprachen erlernen können. Wie aber die Polyglottie bei Nationalsprachen ein Zeichen geistig kultivierter Individuen ist, so könnte man auch in der Beherrschung vieler Systemsprachen gerade eine Herausforderung für die individueller Kultur sehen! Simmels Furcht vor der »Vernichtung« des Gesamtzusammenhangs zwischen den Teilsystemen ist zwar nicht unbegründet, wenn man sich die massiven Steuerungsprobleme unserer Gesellschaft vor Augen hält. Doch im Hinblick auf die Kultur der Individuen beschreibt seine dritte These von der Dissoziation der Teilgebiete objektiver Kultur keinen zusätzlichen Problembestand gegenüber der zweiten These der fortschreitenden Diskrepanz. Vielmehr gibt das dritte Symptom, die Eigenlogik der gesellschaftlichen Funktionssysteme, lediglich eine soziologische Kausalerklärung für jene »verhängnisvolle Selbständigkeit, mit der das Reich der Kulturprodukte wächst und wächst, als triebe eine innere logische Notwendigkeit ein Glied nach dem andern hervor« (XIV 408).

Bilanziert man am Ende Simmels These von der ›Tragödie der Kultur‹, so wird man sagen müssen, dass ihre historische Großperspektive uns über folgendes belehrt: Individuelle Geisteskultur ist in fortgeschrittenen Gesellschaften strukturell erheblich schwerer geworden. Und ihr ursprünglich agrarischer Geist eines Bebauens und Wohnens im überschaubaren Vertrautheitsradius verfliegt zunehmend in einen nomadischen Geist umhergetriebener Großstadtvölker, die wie Fremdlinge durch immer weitere und virtuellere Steppen reiten. Dass aber jener agrarische Weg der Seele von sich selbst zu sich selbst der wahre oder einzige sei, könnte ein alteuropäisches Vorurteil sein. An alteuropäischen Werten gemessen muss der neue Weg als eine umweltbedingte Kümmerform von Kultur erscheinen. Falls es jedoch auch eine neonomadische Geisteskultur geben sollte, so hat sie mit der alten agrarischen immerhin eines gemeinsam. Auch sie kann sich niemals zu einem autopoietischen Funktionssystem namens ›die Kultur der Gesellschaft‹ ausdifferenzieren. Für diejenige Kultur, von deren Schicksal Simmel bewegt war, bedeutet es gerade Glück und Gedeihen, dass sie nicht funktioniert.

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Anhang 1

Anhang 2

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