Reinhart Koselleck
im Gespräch mit
Öffentlichkeit ist kein Subjekt

Öffentlichkeit und Geschichte

Solbach: Das Iablis-Jahrgangsthema lautet: ›Öffentlichkeit als Bühne: Kontaminationen‹. Das impliziert die Frage, was Öffentlichkeit ist, sowie die zweite, wieweit die Bühnenmetapher in diesem Zusammenhang trägt: Hat sie je gegolten und, wenn ja, gilt sie heute noch? Und, falls man letzteres bejaht: Welche Gruppen, welche Institutionen oder Instanzen spielen welche Rolle bei der Inszenierung von Öffentlichkeit?

Koselleck: ›Öffentlichkeit als Bühne‹ ist natürlich eine Metapher. Auf welche Realbühne ließe sich das beziehen – Hoftheater, Operette, Oper, Musical? Also ich finde, die Metapher trägt nicht sehr weit.

Solbach: Und wie steht es mit der attischen Tragödie?

Koselleck: Das war noch Präsenz, Realpräsenz: politisches Theater, so wie es Brecht wieder wollte, eingestellt auf Hör-, Reich- und Sichtweite – das war dann identisch mit dem politischen Forum. Heute läuft es über Presse oder Funk oder Fernsehen als Vermittlungsinstanzen. Hinzu kommt inzwischen das Internet, das ich nicht mehr beherrsche. Wer führt Regie? Das hängt natürlich davon ab, wer bezahlt. Die Presse z. B. wird von immer weniger Leuten finanziert, weil die Reklamefinanziers ins Fernsehen überwechseln. Da kommt es dann zu Machtakkumulationen. Die Frage dahinter lautet: Wer bezahlt das Fernsehen?

Solbach: Halten wir uns noch ein wenig an die Metapher. Ereignisse wie der 11. September oder Amerikas Krieg gegen den Irak konzentrieren das öffentliche Interesse auf einen Punkt oder eine Folge von Geschehnissen. Die Zuschauer nehmen ihre Plätze ein und wollen wissen, wie es weitergeht. Impliziert eine solche Art der Öffentlichkeit auch so etwas wie Welttheater (etwa im Sinne Hofmannsthals)?

Koselleck: Bei Hofmannsthal ist die symbolische Welt gemeint, nicht die reale. Insofern passt der Vergleich nicht auf die Öffentlichkeit, die sozial und politisch abgerufen, ja beschworen wird. ›Öffentlichkeit‹ ist eine Beschwörungsformel. Die Öffentlichkeit, auf die ich mich berufe, ist kein Subjekt. Da sie kein Subjekt ist, kann ich mit ihr auch nicht verhandeln. Öffentlichkeit ist ein Resonanzboden für diejenigen, die Stimmen einspeisen und reflektorisch Stimmen zurückerhalten. Das wäre meine Metapher. Wenn ich einen Vergleich ziehen soll, dann eher mit dem Radar als mit der Presse oder gar dem Hoftheater. – Bemerkenswert finde ich, dass die heute immer deutlicher zutage tretenden globalen Zusammenhänge seit der Entdeckung Amerikas 1492 gegeben sind. Seit 1494, als die Erde zum ersten Mal geteilt wird zwischen Portugal und Spanien, ist Globalität selbstverständlich – auch wenn sie sich de facto damals der Erfahrung entzog. Zum Beispiel waren die Bedingungen des spanischen Silberhandels den Leuten in der Ukraine oder in Polen weitgehend unbekannt, obwohl sie für das europäische Währungsgefüge eine große Rolle spielten. Das heißt, die Bedingungen der eigenen Erfahrung waren auf dem alten Globus fern eigener Erfahrung, das ist die Grundstruktur bis in die Moderne. Diese Bedingungen werden heute zunehmend übersichtlicher gemacht. Je mehr man hört und sieht, was zur gleichen Zeit auf dem Globus los ist, erhält man sozusagen die Information über das, was sein sollte oder sein kann. Ob das die Wirklichkeit ist, wäre eine andere Frage.

Solbach: Das Entscheidende am Bühnengeschehen besteht darin, dass es in ›greifbaren‹ Gestalten vor dem Publikum zur Aufführung gebracht wird. Die Illusion ist immer eine Illusion der Nähe. Darin liegt sicher ein großer Unterschied zu früheren Arten der Berichterstattung. Die Großen der Politik werden heute doch auf sehr merkwürdigen Ebenen dargestellt, auch die Beurteilungkriterien verschieben sich dadurch. Das erzeugt oft eine gewisse ›Verrückung‹ und ›Verrücktheit‹ des Urteils, die sich oft erst in der historischen Rückschau auf Personen und Ereignisse glättet. Stehen öffentliches und geschichtliches – auch zeitgeschichtliches – Urteil miteinander auf Kriegsfuß?

Koselleck: Die Frage zielt ziemlich eindeutig auf die Konstruktion oder Mache, also die Aufmachung von irgendwelchen Figuren, die nur durch die Art der Anstrahlung und der Wiedergabe im Fernsehen effektiv werden. Das nimmt offensichtlich zu, die Leute leben praktisch nur noch von der Rolle, in die sie eigentlich eingewiesen werden.

Solbach: Und die Ebene, auf der etwas passiert, ist eine andere.

Koselleck: Ja natürlich. Die Gretchenfrage lautet: Was wird veröffentlicht – und was bleibt geheim? Das ist die Testfrage. Was wird bei dieser Art von Öffentlichkeit nicht gesagt? Das ist das Entscheidende. Das weiß man als Historiker so wenig wie als Journalist. Die Frage ist, wie man an die Informationen herankommt, die nicht öffentlich sind...

Solbach: Und wann.

Koselleck: Ja, und wann natürlich, wieviel zu spät oder wieviel früher. Ich entsinne mich, von einem Kollegen 1990 im Frühjahr gehört zu haben, dass die Russen bereit seien, das wiedervereinigte Deutschland in die NATO zu lassen. Ich hielt das damals nicht für möglich – aus traditioneller Einstellung und Furcht vor den Russen. Aber er hatte bessere Informationen und es stimmte. Daher kann ich nur sagen: Informationsquellen sind eben wichtig. Als Historiker verfügt man darüber nicht ohne weiteres, die Historiker laufen ja im wesentlichen dem Geschehen hinterher. Die Gegenfrage ist also: Was wird geheim gehalten, was wird vernichtet, das ist ja bekannt, nicht wahr.

Solbach: Mediale Öffentlichkeit ist oder gilt als gemacht. Unterscheidet sie sich darin von der bürgerlichen Öffentlichkeit im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts?

Koselleck: Im 18. Jahrhundert war sie ja noch nicht bürgerlich, das war noch eine ständisch durchmischte Öffentlichkeit. Die Aufklärer werden ex post als bürgerlich definiert, auch in meiner Dissertation – zu Unrecht. Das war eine vormoderne intellektuelle Gemeinschaft von Klerikern, Philosophen, Adligen, Kaufleuten, wenig Kaufleuten und dergleichen, die sich in Salons und in den Freimaurerlogen auf der gleichen Ebene treffen konnten. Ständische Grenzen wurden unterlaufen. Es handelte sich um eine Geheimöffentlichkeit. Die Freimaureröffentlichkeit war noch geheim, weil sie sich anders nicht schützen konnte, das ist meine These, die zwar von vielen Freimaurern bestritten wird, aber das ist eine andere Frage. Anders im 19. Jahrhundert, da ist sie spezifisch bürgerlich, da gibt es den Boom der Presse, die Druckerpresse kann immer schneller produzieren und wirklich am nächsten Tag bereits Informationen liefern, im Lauf des 19. Jahrhunderts immer rascher. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts tut sich in Deutschland noch wenig, in England mehr, in Frankreich auch mehr, später gleicht sich das aus. In der zweiten Jahrhunderthälfte kann man dann seine Zeitung mit den neuesten Nachrichten am Morgen, Mittag und Abend erhalten, das war schon relativ schnell. Insofern ist diese vorweggenommene Öffentlichkeit, die heute im Fernsehen Identität von Ereignis und Information bedeutet, eigentlich schon angekündigt... Es gibt eine schöne Metapher von den Bilderbögen, nicht aus Épinal, sondern aus Deutschland, wo sie in Neuruppin hergestellt wurden. Dort meinte man um 1900, die aktuellen Ereignisbilder kämen so schnell auf den Markt wie der Donnerschlag nach dem Blitz. Da ist schon die Konvergenz von Ereignis und Information in der Theorie, eine tolle Vorstellung und eine schöne Metapher.

Solbach: Bleibt die Frage der Entfernung, gerade bei Blitz und Donner...

Koselleck: Ja natürlich. Mal sind es ein paar Sekunden weniger, mal mehr. Das ist eine schöne Metapher, die beim Fernsehen zur Identität führt. Wir sind dann schon dabei, wenn was passiert, sie sind schon dabei, sollten sie sein, wollten sie sein, na ja...

Solbach: Gibt es in ihren Augen so etwas wie eine Weltöffentlichkeit oder eine europäische Öffentlichkeit oder ist das nur eine perspektivische Täuschung? Noch einmal anders gefragt: Für wie zwingend halten sie die Verbindung von Nation und Öffentlichkeit?

Koselleck: Ja, Nation und Öffentlichkeit, das ist nun sicher spezifisch für das 19. Jahrhundert. Zu Anfang war die Nation eine abstrakte Größe, es gab sie ja noch nicht empirisch. Selbst die Französische Revolution hatte es noch mit völlig heterogenen Ethnien in Frankreich zu tun, es gab keine gemeinsame Sprache. Der Zwang, die Sprache überall in gleicher Weise zu reproduzieren – mittels Schule und Wehrpflicht - ist erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts realisiert worden. Das heißt, die Nation war eine Größe, die über Presse und Verwaltung, über Justiz und Steuer, über Schulpflicht und Wehrpflicht hergestellt wurde. Insofern ist die Nation die maximale, die größtmögliche Handlungseinheit, über die nicht hinausgegangen werden konnte, es sei denn durch den – von vornherein global angelegten – Freihandel. Diese Relation, in der Öffentlichkeit als Medium der Nationbildung fungiert, hat sich im 20. Jahrhundert je nach Kontinenten und Ländern verschoben. Aber wir haben auch heute noch Öffentlichkeitsproduktionen der Nationen: in Weißrussland, in der Ukraine, aber auch im Westen; die Nationalismen laufen ja wieder einmal heiß im Augenblick, wie in Südosteuropa.

Solbach: Das wäre vielleicht eine Erweiterung meiner Frage: dass die Nation nicht als Produkt oder als ›Ding‹, sondern als Aspekt oder als mentale Größe...

Koselleck: Natürlich ist sie eine Projektion derer, die sie definieren wollen. Sie wird gemacht, im Sinne der Urheberschaft seitens der Intellektuellen, das sind die Presseleute, die Professoren, Priester, alle, die heute PR betreiben, die sechs großen Ps – Professoren, Pastoren, PR-Leute, Presse, Poeten und natürlich die Politiker. Das sind die, die sagen, was die öffentliche Meinung zu sein hat. Sie vereindeutigen die Pluralität der Stimmen durch moralische Emphase, durch Nachdruck, durch Predigtton, und verlangen, dass eine gemeinsame Erinnerung von Leuten entsteht, die gar keine haben...

Solbach: ... durch Rückgriff auf Nationalismen...

Koselleck: ... natürlich, das ist politische Mache seitens der sogenannten Eliten - nachweisbar, wie ich glaube, auf Schritt und Tritt, ich sehe da keinen Unterschied, nur der Adressatenraum ist größer geworden. Auf Europa kommen wir noch zu sprechen.

Solbach: Behalten wir die Metapher ›Öffentlichkeit als Bühne‹ noch einen Moment bei. Lässt sich dann der ›Clash of Civilizations‹, immer angenommen, dass es so etwas gibt, am Ende als Ergebnis unterschiedlicher Bühnenkonzeptionen begreifen? Gibt es so etwas wie einander ausschließende Öffentlichkeiten? Ich denke auch an unterschiedliche Arten von Öffentlichkeit. Vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse kommt etwa eine arabische Öffentlichkeit in unseren Blick, die anders zu funktionieren scheint als unsere.

Koselleck: Aber sicher. Die differenten, sich unterscheidenden Öffentlichkeiten schließen sich de facto aus, nicht ihrem Anspruch nach. Der theoretische Anspruch von Öffentlichkeit ist natürlich universal. De facto ist die Öffentlichkeit begrenzt durch die Fähigkeit der Sprache und durch die kulturelle Basis, von der Sprache lebt und auf die sie Bezug nimmt, und da besitzt die arabische Welt, die ja in sich gebrochen ist, die ja keine einheitliche ist, sicher eine andere Art von Öffentlichkeit, so wie früher die chinesische und die japanische eine andersartige hatten und bis heute haben, oder die Inder und Pakistani. Aber der Anspruch des Öffentlichkeitsprinzips, dass nämlich alles kommunizierbar sein sollte, ein normativer Anspruch, den Habermas mit großer moralischer Emphase vorträgt, der ist natürlich universal gedacht. Nur in der Empirie ist er immer gebrochen, da hat sich noch nicht viel geändert. Es sind eben verschiedene Konfessionen, verschiedene Religionen, verschiedene Nationen, verschiedene Wirtschaftssysteme – alles mögliche Subjekte, die in der Öffentlichkeit sich artikulieren.

Solbach: Die Öffentlichkeit spielt gern mit Begriffen und Vorstellungen, die ihr von Historikern vermacht worden sind. Weltreiche ›periklitieren‹, nachdem sie sich ›imperialer Überdehnung‹ schuldig gemacht haben, sie hinterlassen dabei ›Machtvakuen‹, die schleunigst aufgefüllt werden müssen, Terroristen gefährden die Sicherheit und Stabilität ›peripherer Regionen‹ und attackieren das ›Kernland des Kapitalismus‹ und damit der westlichen Zivilisation, während man dort diskutiert, ob der ›Clash of Civilizations‹ unvermeidbar sei oder nicht, aber vorsichtshalber das Verteidigungsbudget in die Höhe schraubt und Präventivkriege führt, in denen die Prävention sich fast ausschließlich auf sonderbare historische Vergleiche bezieht. Die Öffentlichkeit der postkommunistischen Ära (auch dies eine diskussionswürdige Phrase) schwelgt in Beschreibungsmodellen, in denen die Machtpolitik des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts Auferstehung feiert. Frage: Kehren die Begriffe der Historiker an den Ort ihres Entstehens zurück oder unterliegen sie einem Verschleiß, der sie zu wissenschaftlichen Zwecken unbrauchbar macht?

Koselleck: Die Begriffe, die Sie nennen, in der Öffentlichkeit gängige Redewendungen, die am meisten Plausibilität beanspruchen, sind keine spezifisch historischen Kategorien, es sind erst einmal theologische. ›Macht‹ ist eine theologische Kategorie – ›Gottesmacht‹, ›Allmacht‹ –, die dann auf den Staat übertragen wurde, ›Gewalt‹, auch wenn sie politischer oder sozialer Herkunft ist, wird juristisch kategorisiert. Wer wo oder wann Gewalt ausübt,das wird zu einer Rechtsfrage, auch wenn das staatliche Gewaltmonopol derzeit dahinschwindet und verzehrt wird von überstaatlichen, zwischenstaatlichen und innerstaatlichen Gewalten. Das heißt, die Historiker kennen kaum eigene Begriffe. ›Staat‹ ist natürlich ein juristischer Begriff, ein ständischer Begriff gewesen, ›Souveränitat‹, ›Superioritas‹, auch ein lateinischer Begriff, der die ständische Verfassung beschreibt: Wer ist über- und untergeordnet? Die Historiker bedienen sich heute der Metaphern aus der Naturwissenschaft, im 19. Jahrhundert haben sie viele ökonomische und – wie Sie zu Recht sagen – machtpolitische Kategorien verwendet, die aber ihren theologischen Hintergrund nicht verleugnen konnten. Das heißt, ich würde den Historikern gar nicht zumuten, ein großes eigenes Vokabular zu haben. Sie leben von Anleihen, die sie brauchen, um plausibel reden zu können, oder sie reden Soziologendeutsch, und dann ist es nicht mehr verständlich. Ich meine, es gibt einen soziologischen Fachjargon, der zum Teil auch in der Historie wuchert und dort dem normalen Leser nicht mehr zugänglich ist. Wenn die Wissenschaftlichkeit auf dem Jargon beruht, dann lebt die Historie heute eigentlich von der Soziologie und das wird von den Lesern nicht gerade goutiert. Im Ganzen sind die Leser doch neugierig auf erzählte Geschichte, das ist zwar eine Mode geworden, aber anscheinend begreiflich. Dass die abstrakten Definitionen und abstrakten Theorien wenig eingängig sind, heißt ja nicht, dass sie falsch sind. Das ist eben eine eigene Wissenschaftssprache.

Solbach: Periodisierung gehört zum historischen, Klappern zum journalistischen Handwerk. Was halten Sie persönlich von Spontanperiodisierungen, die sich in Ausdrücken wie ›die Welt nach dem 11. September‹ oder dergleichen manifestiert?

Koselleck: Das ist natürlich eine perspektivische Verkürzung. Der 11. September ist in der Selbstwahrnehmung der Amerikaner eine ›Epoche‹, ein Einschnitt, aber man vergisst schnell, dass vor ein paar Jahren schon einmal ein Anschlag aufs World Trade Center stattgefunden hat. Ich war damals zufällig in New York. Große Aufregung, Tote im Keller, es gab schon damals den Versuch, und der Anstifter ist sogar hinter Gitter gekommen. Das heißt, es ist gar nicht so neu, es ist nur effektiver geworden. Insofern ist das in der Kette der Terroranschläge, die ja im 18. im 19. Jahrhundert bereits üblich werden, nur ein Qualitätssprung. Im 19. Jahrhundert sind nur Fürsten ermordet worden, die Repräsentanten, von den Anarchisten serienweise, im 20. Jahrhundert fängt man an, Völker umzubringen, und das im Zeichen einer homogenen Volksherrschaft, der radikalen Demokratie. In der Monarchie werden Fürsten ermordet, im Zeitalter der Demokratie die Völker selber. Sobald die Völker selbst souverän sind, werden sie als Volk identifiziert und so behandelt. Und das gilt für alle ›Transferleistungen‹, wenn die Menschen versetzt, umgesiedelt , vertrieben werden bis hin zur Ausrottung. Auch die Judenvernichtung ist in diesem Zusammenhang zu sehen, denn die Juden wurden unbefragt in einen rassischen Volksbegriff hineindefiniert. Die semantische Aus- und Eingrenzung war der erste Schritt zu ihrer Vernichtung. Der Demokratiebegriff, der nur mit der Volksdemokratie arbeitet, ist tendenziell totalitär. Dazu gehört die Verfassungswirklichkeit der Kommunisten, der Faschisten, der Nationalsozialisten und anderer nur religiös motivierter politischer Organisationsformen. Heute wird Demokratie als liberale Verfassungsdemokratie definiert, mit Gewaltenteilung, Grundrechtsschutz und Toleranzgebot. Rein nationale Identitätszuweisungen: ›Du bist Russe‹, ›du bist Deutscher‹, ›du bist Jude‹ und dergleichen sind Zuordnungen, die in der liberalen Demokratie, normativ gesprochen, gerade nicht stattfinden sollten, aber de facto eben auch stattfinden, mit unterschiedlichen Folgen.

Solbach: Das heißt, solche Spontanperiodisierungen haben eher funktionale Bedeutung?

Koselleck: Ja. Die Spontanperiodisierung verweist ja in dem Fall auf Erfahrungsräume, und da muss ich sagen, dass der 11. September gerade keine sehr tiefgreifende Veränderung gebracht hat, denn den Terror in Israel-Palästina gibt es, seit diese Staaten existieren bzw. existieren wollen. Da ist der Terror schon Dauerzustand, er wird jetzt auch in Amerika angewendet, mehr angewendet, im Irak auch, darin sehe ich nur eine Verschärfung von Tendenzen, die sich schon seit einem halben Jahrhundert abzeichnen.

Solbach: Das heißt, dass Spontanperiodisierung als eine Art Rechtfertigung von Machtpolitik dient?

Koselleck: Ja, wenn mit den Anschlägen überhaupt Machtpolitik intendiert ist. Ich glaube, dass die Araber, sofern es sich um arabische Terroristen handelt, nur die Weltmacht Amerika treffen wollen, aber keine eigene Machtpolitik in dem Sinne verfolgen, dass sie...

Solbach: Ich meinte ja auch eher von der anderen Seite, immerhin ist diese Rede von seiten derer geführt worden, die sich gegen die Terroranschläge wehren. Die Amerikaner sagen, die Welt sei eine andere seit dem 11. September und sie müssten jetzt anders vorgehen...

Koselleck: Das ist die Selbstwahrnehmung der Amerikaner, die Hilflosigkeit, dass man gegen einen unsichtbaren Gegner schwer kämpfen kann. Dasselbe gilt natürlich für viele – all diese terroristischen Aktionen, die wir in der Bundesrepublik, in Frankreich hatten. Das hier hat nur eine andere Dimension, nicht wahr: dreitausend Menschen durch zwei Flugzeuge auf einmal umbringen zu können, das ist schon eine unglaubliche taktische Planungsleistung, wenn man es so definieren darf. Das Verbrechen ist sozusagen gekonnter als bisher, effektiver und das wird ja noch schlimmer kommen können. Die Brücken sind wahrscheinlich dauerhaft gefährdet, diese riesigen Brücken in Amerika, man kann hochrechnen, was die intellektuellen Araber, die Fundamentalisten so im Auge haben. Furchtbar.

Solbach: Peter Sloterdijk hat gelegentlich die Vokabel von der Nation als ›Erregungsgemeinschaft‹ gebraucht. Trifft dieselbe Vokabel Ihrer Auffassung nach auf Öffentlichkeit zu? Ist es eine notwendige, eine hinreichende Beschreibung von Öffentlichkeit?

Koselleck: Ich finde den Ausdruck ›Erregungsgemeinschaft‹ sehr schön, das ist eine gute Formulierung. Aber Öffentlichkeit – wie ich schon sagte – ist kein Subjekt, infolgedessen ist sie auch keine Gemeinschaft. Die ganze Metapher stimmt nicht. Die Öffentlichkeit ist ein Resonanzboden der Stimmen, die Öffentlichkeit herstellen, ein Empfangsbecken, um Zuhörerschaft und aktive Reaktionsbereitschaft auszulösen. Öffentlichkeit ist kein homogenes, in sich stimmiges Subjekt. Und sie kann sich auch sehr wandeln, schwankend sein. Das ist eine alte Kritik an der Öffentlichkeit, dass sie selbst schwankt, aber es gilt ja auch für die Menschen. – ›Erregungsgemeinschaft‹, das ist natürlich ein suggestiver Ausdruck, der sehr einleuchtet, denn die Erregung kann abklingen und wieder neue Objekte, neue Gegenstände finden. Insofern finde ich diesen Begriff ganz gut. Es ist kein historischer Begriff, wenn man so will, ein psychologischer Begriff, der von uns Historikern verwendet werden kann.

Der Historiker als Zeitgenosse

Solbach: Historische Begriffe sind Erfahrungsbegriffe. Nun umfasst das Leben eines Historikers selten mehrere Geschichtsepochen. Was empfindet man als Historiker, wenn in der eigenen Lebensumgebung eine neue Epoche ausgerufen wird?

Koselleck: Wir haben eben schon gesagt, die neue Epoche, die ich jetzt ausgerufen höre, ist tendenziell schon angelegt. Wenn man die politischen Morde des 19. Jahrhunderts als Vorzeichen einer radikalen Demokratie liest, kann man sagen, bringt der Terror nichts Neues. Neu ist nur die technische Perfektion, die aber wirklich Qualitätssprünge hervorruft. – Ich selbst kann nur sagen, Epochen habe ich natürlich erlebt. ›Ausgerufen‹, das ist für mich der 30. Januar 1933: als Hitler an die Macht kam, wurden wir in der Schule sofort angehalten, mit ›Heil Hitler‹ zu grüßen. Der erste, den ich, ein zehnjähriger Junge, so grüßte, war ein jüdischer Freund meines Vaters, der mich strahlend anlachte – und auslachte. Er hat überlebt und die Szene bestimmt vergessen, ich nie, weil ich dachte, jetzt sage ich schon diesen Gruß und dann ausgerechnet dem, von dem ich noch gar nicht wusste, dass er ein Jude war. Das war einfach nicht bekannt, er war ein Freund meiner Eltern, ein Kollege meines Vaters, der wie mein Vater bald ›abgebaut‹ wurde, wie es damals hieß. 1945 war der nächste Epochenschnitt, da hielt in der russischen Gefangenschaft ein kommunistischer Prediger, einer dieser Politkomissare, bei uns im Lazarett eine Ansprache darüber, dass der Sieg über Japan nun den ewigen Frieden bringe, und das sei der Anbruch der neuen Epoche, der letzten der Weltgeschichte. Da habe ich mich nicht entblödet zu fragen, wieso viertausend Jahre Hochkultur nicht ausgereicht hätten, diesen Frieden zu stiften, und er ausgerechnet jetzt mit der Atomwaffe möglich sein solle. Der Mann war so beleidigt, dass er auf dem Absatz den Raum verließ und die anderen zu mir sagten, Menschenskind, hättest du doch deine Schnauze gehalten, jetzt geht’s nach Workuta. Da habe ich den Spruch geprägt: »Lieber Stalin, mach mich stumm, dass ich auch nach Hause kumm.« Aber er hat mich nicht angezeigt. Er war ein Deutscher, ein Studienrat, der mit Hermann Hesse befreundet war, also doch Bildungsbürger. Aber ich muss sagen, ich war viel zu unvorsichtig.

Solbach: Manchmal ist das Bildungsbürgertum doch noch zu etwas gut.

Koselleck: Ja, sicher, in dem Fall war das so... obwohl Bildung keine Garantie für anständiges Verhalten ist. Das ist vielleicht auch ein Epocheneinschnitt, den ich natürlich damals nie als solchen erkannt, anerkannt hätte. 1945 war halt für mich primär die Katastrophe des Besiegten, der, wie es so hieß, noch einmal davongekommen ist.

Solbach: Was heißt es angesichts des aktuellen amerikanischen Strebens nach Welt-Dominanz und einer Politik der EU-Erweiterungen, wie es sie niemals gab, Deutscher und Europäer zu sein? Sind das Etiketten aus einer untergehenden oder bereits vergangenen Welt? Geht ›Europa‹ in der Konstruktion Europas unter?

Koselleck: Das muss nicht sein. Wenn es sich um eine Konstruktion handelt, kann sie sich mit Inhalt füllen. Europa könnte ja ein Entwurf sein.

Solbach: Wie sehen sie es?

Koselleck: Ich bin da ohne jede Emphase. Natürlich fühle ich mich auch als Europäer, sofern ich als wünschenswert erachte, dass Europa eine größere, eine höher aggregierte Gemeinschaft wird, wobei meine Grundthese ist – ähnlich der meiner ehemaligen Studentin Christine Landfried –, dass es darauf ankommt, die Differenzen innerhalb der europäischen Nationen wahrzunehmen und sie nicht zu vertuschen. Meine Formel für den Föderalismus Europas war immer: ›Ein Minimum an Gemeinsamkeit erreichen, um ein Maximum an Unabhängigkeit zu bewahren.‹ Das ist eine Formel, auf die sich alle einlassen könnten. Das Minimum der Gemeinsamkeiten kann und muss größer werden, das Maximum an Unabhängigkeit muss deswegen nicht Schaden nehmen. Das ist die Situation, in die die Europäer hineinwachsen: Minimum an Gemeinsamkeit, Maximum an Unabhängigkeit. Dann fragt sich: Was ist minimal nötig? Es kommen eben zunehmend neue Kriterien hinzu, ob das nun die Außenpolitik ist, wie es sich ja ein bisschen abzeichnet, aber das ist noch lange nicht durchsetzbar... die Wirtschaftpolitik könnte es sein, die Steuerpolitik könnte es sein, was auch immer. Man muss suchen, welche minimalen Gemeinsamkeiten man stiftet, um unabhängig bleiben zu können. Die Unabhängigkeit liegt dann in der nationalen Tradition begründet. Die Franzosen und die Spanier, die Italiener, die großen Briten, die Niederländer – sie alle haben ihr nationales Selbstbewusstsein, nur die Deutschen nicht. Sie sind die einzigen, die aufgrund ihrer föderalen Tradition nie eine richtige Nation bildeten und deshalb ihre Rolle nationalistisch überkompensiert haben. Diese ihre Rolle haben sie durch den ersten und zweiten Weltkrieg ausgespielt. Auf Grund dieser Vergangenheit ist ihnen eine Identität, die über das Deutsche hinausreicht, sozusagen in den Leib diktiert. Deshalb sind sie scheinbar bessere Europäer, aber sie werden genötigt, national zu sein: von den Nachbarn, nicht von uns selbst. Die Nachbarn erwarten, dass wir auch nationale Interessen vertreten, und wenn wir es nicht tun, dann werden wir verachtet.

Solbach: Und wenn wir es tun, gefürchtet.

Koselleck: Das ist die Gefahr. Deswegen muss man dieses Minimum in der Gemeinsamkeit anstreben, um die maximale Unabhängigkeit zu retten, für alle. Ich glaube, das ist eine Formel, mit der man die Differenzen am besten diagnostizieren kann, um produktiv voranzukommen. In dem Sinne würde ich mich als Europäer definieren, nicht in irgendeinem emphatischen, kulturellen oder religiösen oder sonstigen Sinn.

Solbach: Nach dem Zweiten Weltkrieg bestand Jean-Paul Sartre auf der tragischen Sendung Europas zwischen den materialistischen Weltmächten Amerika und Sowjetunion, also zwischen der individualistischen und der kollektivistischen Glücksverheißung – von der attischen Tragödie bis zu den Heldentaten des Widerstandes gegen die Nazi-Besatzung eine Menschheitsstunde. Sehen Sie diese Einheit Europas und können Sie eine europäische Sendung erkennen oder halten sie diese Formel Sartres schon für im Ansatz verfehlt?

Koselleck: Na, die Formel Sartres war natürlich sehr schick und passt auch in die Nachkriegszeit, als Europa überall groß geschrieben wurde, weil man die Differenzen noch nicht wahrnehmen konnte, die auftauchen, wenn man sich als gleichberechtigt anerkennt. Die Franzosen hatten natürlich ihre eigene Kulturmission, und dass man nun von Athen bis - wie Christian Meier sagt – Auschwitz eine Einheit erkennt, das lässt sich ja nicht völlig leugnen, aber es ist natürlich eine abstrakte Einheit, die keine Identitätsgefühle bei den Mitgliedern auf Malta mit Esten oder Finnen, mit Türken oder wem auch immer hervorrufen kann. Daher bin ich sehr skeptisch, ob diese emphatische Selbstbeschreibung etwas erzeugt, und eine Sendung ist daraus schon gar nicht abzuleiten. Ich sehe keine Sendung, die uns als Programm vor die Nase gehalten werden müsste, um in eine Richtung zu laufen. Die Amerikaner haben diese Sendung seit ihrer Geburtsurkunde, die Franzosen besitzen eine gewisse Sendung seit der Französischen Revolution und bei den großen Briten leitet sich das weniger aus der englischen Revolution ab als aus ihrem Erfolg, ein Weltreich gehabt zu haben. Daraus eine Mission abzuleiten, ist nun schwieriger, weil es vorbei ist. Die Deutschen haben ohnehin verpasst, was sie hätten tun können oder mögen, das haben sie alles selbst verschuldet. Angesichts dieser Lage überhaupt eine Sendung zu postulieren... Mein Vorschlag wäre, pragmatisch zu sehen, was man im nächsten Schritt sinnvollerweise tun kann. Die Nichteuropäer werden uns schon eine Rolle aufnötigen, um sich vor uns zu schützen oder mit uns zu kollaborieren. Unsere Bedeutung im Nahen Orient ist ganz sicher gegeben. Dass die Amerikaner alleine den Nahen Orient, wie auch immer, durch Gewalt nicht ordnen können, zeichnet sich ja ab. Dass da eine europäische Intervention, moralisch, wirtschaftlich, politisch, wie auch immer – weniger militärisch - eine Rolle spielen kann, lässt sich nur erwarten, nicht programmieren. Ich persönlich halte es für sehr wahrscheinlich. Dasselbe gilt natürlich auch für die Russen und, wer weiß, vielleicht demnächst auch für die Inder. Man kann ja jetzt noch nicht beurteilen, was in zehn Jahren sein wird.

Solbach: ›Aufklärung‹, diese Grundvokabel eines Europa, das heute polemisch das ›alte‹ genannt wird, ist aus den Disputen der Öffentlichkeit verschwunden und in die Seminare zurückgekehrt. Bedauern Sie das?

Koselleck: Das ist sowieso ein eigentümlicher Sprachgebrauch. Die Aufklärung ist entweder eine historische Erscheinung, dann existiert sie im deutschen Sprachgebrauch überhaupt erst seit 1780. Vorher gab es den Begriff gar nicht und er hat sich dann sehr schnell in den Bildungsbegriff transformiert. Denn ›Bildung‹ ist Selbstaufklärung, Selbsterziehung, Selbstkontrolle. Was die Aufklärung forderte - mündig zu werden –, ist im Bildungsbegriff eingelöst. Im deutschen Sprachablauf und ihrer Selbstwahrnehmung nach sind die Bildungsapostel der Romantiker, Klassiker, der Dichter, der Philosophen wie auch der Ökonomen Aufklärer. Das ist der Bildungsbegriff, der bei uns die Erbfolge des Aufklärungsbegriffs völlig ausgefüllt hat, ohne Verzicht auf Aufklärungspostulate zu leisten. Der Aufklärungsbegriff geriet in Kritik, weil er als rationalistisch, bar jeder emotionalen Potenz und dergleichen definiert worden ist. – Soweit der historische Aufklärungsbegriff. Der nach 1968 von den Studenten wieder aufgebrachte große emphatische Aufklärungsbegriff ist im Grunde ein Emanzipationspostulat, ein Gleichberechtigungspostulat für die Klassen, für die Völker, für die Geschlechter – Postulate, die im 18. Jahrhundert schon ausgesprochen waren, sich aber empirisch kaum einlösen ließen. Die Gleichberechtigung in der Liebesbeziehung zum Beispiel ist ein Postulat, das zwischen 1800 und 1820 im Bildungsbürgertum entstand, das sich mit französischem Vorlauf in den Texten von Friedrich Schlegel oder Schleiermacher wiederfand. Diese romantischen Postulate konnten jetzt zum ersten Mal in die Wirklichkeit überführt werden. Die geschlechtliche Gleichberechtigung und die Mündigkeit im Sinne der emanzipatorischen Selbstbestimmung spielte eine große Rolle in der sogenannten Studentenrevolte, aber das ist noch eine Einlösung vorausgegangener Postulate. – Dahinter steht die eigentliche Problematik, dass Aufklärung auch einen systematischen Stellenwert haben und anti-historisch gedacht werden kann. Dann findet man die Aufklärung bei den Griechen, die Aufklärung im Mittelalter, die Aufklärung im frühen 19. Jahrhundert und so weiter. Das heißt, dann wird sie zu einer formalen Bestimmung, unter der sich bestimmbare Inhalte wiederholen lassen. Dahin gehört meiner Auffassung nach auch der Emanzipationsbegriff. ›Emanzipation‹ war bei den Römern ein juristischer Begriff und beinhaltete die Anerkennung derer, denen die ›emancipatio‹ erteilt wurde und die so zu selbständigen Bürgern werden konnten; was nicht allen möglich war, denn man befand sich noch in einer patriarchalischen Gesellschaft. Aber die emancipatio war ein Rechtsakt der Mündigerklärung, der von Generation zu Generation wiederholt werden konnte. Zu glauben, dass man ein für allemal mündig sei, setzt ein fiktives Menschheitssubjekt voraus. Aber die Menschheit ist kein Subjekt, nur eine Referenzbestimmung, und es stellt sich heraus, dass die Emanzipation sich immer wiederholen muss, zur Überraschung derer, die sich emanzipiert glauben. Das ist es, was sich jetzt wieder einmal zeigt. Wer Emanzipation auf Dauer stellen will, muss anerkennen, dass man nie perfekt emanzipiert sein kann, sondern immer neue Formen der Befreiung und Ablösung anstreben muss, um sich von bestehenden Zwängen zu lösen, was nicht heißt, dass nicht neue Zwänge entstehen. Da gibt es eine kompensatorische Regel, man ist nicht ein für allemal emanzipiert.

Solbach: Seit Nietzsche gehört zur Zeitgenossenschaft der bizarre Doppelvorwurf der Geschichtsbesessenheit und Geschichtsvergessenheit: Linke wie Nazis, biedere deutsche Nachkriegsöffentlichkeit, Wortführer des Betroffenheits- und Gedenkkultes ebenso wie pragmatische Politiker des gängigen Parteienspektrums – der zweifache Vorwurf lässt niemanden aus. Können Sie mit ihm etwas anfangen? Anders gefragt, gibt es ein angemessenes Verhältnis zur Geschichte?

Koselleck: In der Formel der Vergessen- und Besessenheit kann ich mich nicht wiederfinden, vielmehr versuche ich gleichmäßigen Abstand zu halten zu dem, was Geschichte ausmacht. Insofern ist das ein Wortspiel, das sicher reizvoll ist, das sich aber meiner eigenen Erfahrung entzieht. Dass die Alternative eine analytische Bedeutung haben kann, ist nicht zu verleugnen. Das bezieht sich zum Beispiel auf den Betroffenheits- und Gedenkkult. Die Deutschen streben da eine Art nachgeholter Wiedergutmachung an. Der Betroffenheitskult hat natürlich sehr viel Verlogenes an sich, daran ist gar kein Zweifel. Wenn man das, was die Deutschen an Schuld auf sich geladen haben im Kriege durch die Ermordung von Millionen unschuldiger Zivilisten oder von Millionen unschuldiger Gefangener, die sie haben verhungern lassen - insgesamt kommt man ungefähr auf zwölf Millionen, die doppelte Zahl der ermordeten Juden –, wenn man die russischen Kriegsgefangenen, dreieinhalb Millionen, und die Polen, über drei Millionen, die von uns großenteils umgebracht worden sind, mitrechnet, was ich für zwingend halte, dann kommt man auf Dimensionen, die man durch keinen Gedenkkult in irgendeiner Weise aus der Welt schaffen kann. Diese Dimension der Fatalität, die wir produziert haben, ist nicht einzuholen durch noch so viel Beteuerungen und damit müssen wir leben lernen. Die Nachgeborenen haben den einen Vorteil, dass sie sich nicht persönlich schuldig gemacht haben, sondern diese Katastrophen, die die Deutschen zu verantworten haben, nur noch historisch reflektieren können. Das ist dann doch eher rationalisierbar, das muss man aus Distanz behandeln, man kann es nicht nur durch emotionale Bekenntnisse zu bewältigen versuchen, das geht nicht. Und wenn wir das nationale Bekenntnis gar noch staatlich verwalten lassen, dann sind wir just da, wo wir bei den Nazis gewesen sind, bei der Gesinnungssteuerung durch moralisches Auftrumpfen: Wer denkt besser als der andere? Diese Art von Gedenkkonkurrenz ist das Peinlichste, das die Deutschen der Öffentlichkeit im Ausland bieten.

Solbach: Es ist oft beschrieben worden: Medien-Bösewichter wie Saddam Hussein (»Enemy of the Month«) erfüllen dieselbe Aufgabe wie die Figuren des klassischen Dramas. Ihr ›Image‹ ist ›inszeniert‹, sie kommen sozusagen ins Spiel, um ›die Handlung‹ voranzutreiben, um sie rankt sich das Thema von Triumph und Fall. Der Unterschied zwischen Drama und medialer Inszenierung liegt auf der Hand: Das Töten ist real und die Katharsis des Zuschauers braucht Opfer. Deprimiert Sie der Rückfall – sofern dies das richtige Wort ist – aufgeklärter Gesellschaften in opferkultische Verhaltensweisen? Würden Sie es überhaupt so sehen?

Koselleck: Ja, da bin ich im Zweifel. Dieser Fall Hussein ist sehr kompliziert, denn das ist offenbar ein hochintelligenter Massenmörder, der mit viel Inszenierungskraft sich selbst so stilisiert hat, dass er die brutalsten Gemeinheiten mit bestem Gewissen begehen konnte. Er selber veranlasste die Vergasung von Kurden und die Kindereinsätze im Krieg gegen Iran. Das sind Sachen, die in unserer Phantasie gar nicht mehr vorstellbar waren, – dass man Bevölkerungsgruppen überhaupt vergasen sollte oder könnte, war für die Deutschen nicht mehr vorstellbar. Damit wiederholt sich ein Typus von Verbrecher, der – mit Hilfe der heutigen technischen Mittel – sein Regime brutal perfektionieren konnte, darin Stalin, Hitler und Himmler nicht unähnlich. Hussein ist hier nachgerückt und auch der antisemitische Affekt spielt bei den Arabern eine riesige Rolle. Insofern ist die Judenvernichtung als Gefahr nicht zu Ende. Deswegen ist meine Vorstellung, welche auch immer man von den Metaphern der Theaterwelt verwenden will, dass die Amerikaner als einzige Macht, die über die Gewalt und die Macht und das Geld verfügt, verpflichtet sind, die Palästinenser und Juden – oder Israelis in dem Falle – zu einem Frieden zu zwingen. Sie scheinen mir die einzige Macht auf der Welt zu sein, die es kann, sonst kann es niemand, aber ich fürchte, sie schaffen es auch nicht. Der Krieg gegen Irak war ein Entlastungkrieg, fast ein Ablenkungskrieg, gemessen an der Verpflichtung, in Israel und Palästina Ruhe zu stiften. Daher bleibt Hussein, obwohl er meines Erachtens zu Recht gestürzt worden ist, doch eine Nebenfigur in dem tiefer angelegten Konflikt zwischen Christen, Israelis und arabischer bzw. muslimischer Bevölkerungsmehrheit. Der christlich-jüdische Anteil ist ja vergleichsweise gering im Orient, wenngleich die Israelis (6,6 Millionen, davon 72 Prozent jüdisch) einen neuralgischen Punkt für sich selbst darstellen: Sie können jederzeit umgebracht werden, wenn sie sich nicht schützen. Diese Aporie können nur die Amerikaner lösen – durch Gewalt, durch Druck, durch moralischen und finanziellen Druck bzw. Hilfen können sie eine Lösung erzwingen, aber ich sehe nicht, dass dies der Fall ist. Hussein als theatralische Opferfigur, das wäre dann mehr eine Metapher der poetischen Annäherung, die mir nicht sehr liegt.

Solbach: Die Schwäche Europas - die vielleicht eine Stärke ist – spiegelt sich auch in der geringen Beachtung, die das europäische Parlament, verglichen mit nationalen Parlamenten, in den Medien erfährt. Die zweite Repräsentation, die mediale Berichterstattung – das Abbild des Abbilds, mit Platon zu reden – filtert die erste aus. Ähnliches gilt für die Vollversammlung der Vereinten Nationen und vergleichbare transnationale Institutionen. Kann Öffentlichkeit versagen - Öffentlichkeit als ›Prinzip‹ gesehen und nicht als Subjekt?

Koselleck: Hier ist sozusagen die mediale Vermittlungszone zwischen den verschiedenen Repräsentationen, die im Grunde von der Gemeinde über die Länder auf die Staaten und auf die überstaatlichen Unionen bis auf die Weltstaatengemeinschaft aufstufbar ist. Diese Art von Aufstufung birgt natürlich die Gefahr, dass man sie sich als diachrones Ablaufmodell denkt, linear, als sei eine höher aggregierte Ordnung dann die bessere. Das ist ja nicht zwingend so, es kann durchaus sein, dass die Beziehungen zwischen den verschieden organisierten Föderationen durch Querverbindungen und durch Sonderbeziehungen andere Konstellationen erzeugen. Etwa könnte man sich vorstellen - unterstellt, Israel-Palästina wäre eine Föderation, was theoretisch denkbar wäre, von Hannah Arendt 1945 sofort gefordert, wäre diese Föderation gelungen oder würde sie vielleicht noch gelingen –, dass sie natürlich Modellcharakter für eine ganz neue Art von Zusammenleben haben könnte. Das ist bisher noch nicht versucht worden, leider, und so könnte es sein, dass horizontale föderative Ein- und Ausschließungstechniken Gemeinsamkeiten stiften zum Zweck der Selbsterhaltung, Gemeinsamkeiten, die dann neue Frontstellungen und Bereitschaften zu neuen Friedensstiftungen ermöglichen. Das alles muss nicht auf der obersten Ebene laufen, obwohl es im Augenblick danach aussieht, da die Amerikaner die einzigen sind, die durch die militärischen Waffenmonopole, die sie haben und die ja nun unüberbietbar sind, alle Macht in der Hand haben und dadurch plötzlich eine Rolle, eine Sonderrolle sozusagen zugewiesen bekommen.

Solbach: Die sie durch neue Waffensysteme, die sie jetzt schaffen wollen, noch verstärken...

Koselleck: Ja, völlig klar. Aber ob das friedensstiftend wird, ob das entlastend wirken kann auf die Länge, ist sehr die Frage. Die Ressentimentstrukturen sind natürlich genauso stark, man sieht es zur Überraschung aller im Irak. Es ist schwer zu sagen, wie es weitergeht. Der Bürgerkrieg im Sinne des Guerillakriegs kann jederzeit weitergehen, und wenn die Türken noch eingemischt werden, erbeten, sich noch einzumischen, dann könnte es sein, dass sie die Katastrophe zwischen Israelis und Palästinensern, türkischen Kurden, irakischen Kurden, Türken und Irakern, Schiiten und Sunniten im Irak potenzieren. Es ist sehr schwer, die Pluralität der zusammengewürfelten Völker zusammenzuhalten, die 1918 dort zusammengenötigt worden sind – völlig absurd, von demokratischer Selbstbestimmung ist da keine Rede gewesen, das waren A-Mandate, die zur Selbstverwaltung erzogen werden sollten. Den Auftrag dazu hatten sich Engländer und Franzosen im Friedensschluss von 1919 selbst erteilt, mit Grenzlinien, die den Öllagern angepasst wurden. Natürlich haben sie nicht danach gefragt, was das für Bevölkerungsteile sind, es gab kein demokratisches Selbstverwaltungsprinzip, umgekehrt war Toleranz als Anerkennung der Andersgläubigen und Anderssprechenden als Verfassungsprinzip dort völlig unbekannt. Selbst das als tolerant gedeutete osmanische Reich hat den Armeniermord inszenieren lassen.

Es ist schwer zu sagen, ob es den Amerikanern gelingen wird, das Zusammenleben so heterogener Bevölkerungsgruppen durchzusetzen, wenn es nicht einmal gelingt, zwischen Israel und Palästina eine Symbiose zu erzwingen, wo sie zum Überleben absolut notwendig ist. Offenbar handelt es sich um einen unlösbaren Konflikt, der die Katastrophe perpetuiert.


Disziplin, Erfolg und Desaster

Solbach: Verglichen mit anderen Kultur- oder Geisteswissenschaften hat die Geschichte ein überwältigendes Publikum. Geschichtliches Wissen gilt als ›Hintergrundwissen‹ und wird hoch honoriert. Aber natürlich verfährt Öffentlichkeit auch hier hoch selektiv. Mit der Fülle des Wissens wachsen oft Abstinenz und Widerwillen. Wo beginnt, wo endet für Sie mediale Hypokrisie? Anders gefragt: Wie geht historisches Wissen eigentlich ein und auf welche Art und Weise bildet es eine Urteilsbasis für Öffentlichkeit?

Koselleck: Ich bin mir sehr im Zweifel, ob das, was Sie den Historikern unterstellen, so stimmt... Dass sie Hintergrundwissen vermitteln, ich glaube, das ist vorbei. Das Hintergrundwissen war sicher groß im Horizont des Bildungsbürgertums. Die haben alle ihr Griechisch/Latein gelernt, es waren nicht viele Menschen, aber es war die Elite. Ob sie Juristen, Ärzte oder sonstwas wurden, sie hatten einen gemeinsamen Kanon humanistischen Wissens, der sich in den Naturwissenschaften ausfächerte und anteilig noch mit als Allgemeinwissen vermittelt wurde. Aber in der heutigen technisch-industriellen und super-verwalteten Welt ist das historische Hintergrundwissen über die Bedingungen dieser Zustände relativ gering. Die Vergangenheit, als gewusste Vergangenheit, nähert sich dem Nullpunkt. Wenn ich meine fünf Kinder frage, was sie in Geschichte noch gelernt haben, dann sind das sporadische Andeutungen dessen, was man als Hintergrundwissen bezeichnen müsste, sollte, können sollte. Also ich glaube nicht, dass es das gibt. Natürlich ist der Historiker der Sache nach zuständig für Fragen, die sich der politischen Alltagswelt entziehen und deren Genese er erklären können sollte, und da spielt er als Fachmann für Gegenwartspolitik eine Rolle. Aber schon die Mediävisten, die Ethnologen, die Antike-Historiker, die Orientalisten werden ganz selten abgerufen, um Hintergrundwissen für politische Handlung oder für politische Theorie zu vermitteln. Das gibt es, man kann mit Aristoteles heute mehr lernen und lehren, als wenn man irgendwelche Völkerwanderungselemente kennt. Umgekehrt könnten die Völkerwanderungs-Spezialisten vielleicht sehr viel über das sagen, was im nächsten halben Jahrhundert auf dem Globus passieren wird, denn das sind Vorgänge, die sich abzeichnen. Wenn diese Flüchtlingsströme mit Gewalt durchbrechen, kanalisiert durch irgendwelche Machtorgane, dann könnte es plötzlich dahin kommen, dass Völkerwanderungs-Spezialisten mehr Hintergrundwissen zu vermitteln haben als jeder andere. Denkbar ist das überall, doch als Gemeinwissen ist das historische Wissen so gering geworden, dass es nur noch Interessenten engagiert, wie eben einer gleichzeitig auch in Sport oder in Biologie engagiert sein oder Schmetterlinge sammeln kann.

Solbach: In Kritik und Krise, vor nunmehr fast fünfzig Jahren erschienen, lassen Sie die Aufklärung aus der absolutistischen Konzeption des Staates hervorgehen. Heute, zu Zeiten des jüngsten Irak-Krieges, sehen wir einen Absolutismus staatlichen Handelns, der sich im Namen der Freiheit und der Sicherheit eines einzelnen übermächtigen Staates über die Institutionen des Völkerrechts wegsetzt, während die Ohnmacht nach Verträgen und suprastaatlichen Organisationen ruft: Wäre das der mögliche Ausgangspunkt einer neuen Aufklärung, die, anders als im 18. Jahrhundert, zwischen den Weltkulturen spielen müsste?

Koselleck: Das ist ein interessanter Gesichtspunkt. Ob dieses Modell, das ich für das 18. Jahrhundert zu entwickeln versucht habe, übertragbar ist auf gleichberechtigte Weltkulturen, die kein Oben-Unten kennen, nur parallele Hierarchien, während es im 18. Jahrhundert ganz eindeutig war, dass die absolutistische Machtakkumulation den Bürger ausschloss aus der politischen Entscheidungsfindung...? Damals mussten Oppositionstechniken und -argumentationen entwickelt werden, die man Aufklärung nennt, aber auch Geheimnistechniken, wie bei den Freimaurern, um aktionsfähig zu werden, was mit Verschwörungstheorie überhaupt nichts zu tun hat, wie mir sehr häufig unterstellt wird. Ob man damit ein Modell hat, mit dem sich der gegenseitige Austausch der Kulturen vergleichen lässt, damit komme ich einfach nicht ganz zu Rande... Ich fürchte, die eigentliche Analogie ist folgende: dass die innerhalb der Staaten, genauer eines Staates vorausgesetzte Gleichheit und Freiheit, die man erzeugen kann, die dann das Verfassungsprinzip der französischen Revolutionsverfassung werden, dass diese auf dem Boden eines Verfassungsstaates gewährte Gleichheit und Freiheit der Individuen sich nicht aufstufen lässt zu einem Verfassungsstaat der Weltgemeinschaft. Darin liegt ja das eigentliche Analogon, dass man auf der Ebene der Staaten, die alle frei und gleich sind (nominell sind sie das in der UNO) einen Weltvolksstaat, einen Weltvölkerstaat bilden müsste. Das ist schon im 18. Jahrhundert von Kant angestrebt worden; im Völkerbund und dann in der UNO wurden bestimmte Zonen realisiert oder, immerhin, zu realisieren versucht. Der Völkerbund ist gescheitert, denn er hat nichts von dem verhindert, was er hätte verhindern sollen, nämlich Hitler oder Mussolini, und die UNO hat auch noch nicht viel erreicht. Wenn man also danach fragt, wo die Anerkennung der verschiedenen Kulturen und Völker unter sich friedensstiftend werden sollte: die fünfzig Kriege, die wir seit 1945 haben, sprechen eine andere Sprache. Nur wir in Europa sind davon ausgenommen. Ansonsten haben wir rings um den Globus Bürgerkriege, Interventionskriege, Polizeiaktionen und so weiter, Millionen von Toten. Das heißt, es hat sich strukturell wenig geändert. Die einzige Frage ist, ob die Differenzen, die zwischen den verschiedenen Staatsgebilden oder Föderationen oder kulturellen Handlungseinheiten vorherrschen, ob diese Differenzen sozusagen so anerkennenswert werden, dass man sich darüber verständigt. Das scheint mir das Wichtigste zu sein.

Solbach: Es ist ein bisschen auch eine Frage nach dem Begriff der Aufklärung selbst: Gibt es so etwas wie westliche Dominanz im Begriff der Aufklärung und ist das vielleicht sogar strukturell oder gehört in einer gewissen Weise strukturell dazu?

Koselleck: Die Araber, die ich vor fünfzig Jahren als Studenten in England kennenlernte, waren stolz darauf, rationeller zu sein als alle Christen und viel rationalistischere Aufklärer. Das war die minoritäre Elite, die damals in den arabischen Staaten herrschte. Von ihrer Auffassung, sie seien die besseren Aufklärer, kann bei den heutigen Fundamentalisten, den gläubigen Moslems, nicht die Rede sein. Die fühlen sich immer bevormundet und sind es ja auch, wenn man die Palästinenser betrachtet, die sind humiliated, erniedrigt. Seit dem Kriegsende 1918 haben sie die Freiheit versprochen bekommen, wie die Israelis auch, und sie sind immer wieder erniedrigt worden. Diese kontinuierliche Erfahrung der Erniedrigung, erst durch die Engländer und Franzosen und nachher durch die Amerikaner und dann die Israelis, schürt unendlichen Hass – und da hilft keine Aufklärung, da hilft nur politisches Handeln, um die Gefahren zu reduzieren, um den Frieden zu erzwingen. Das geht nicht durch Aufklärung alleine. Wenn man die Differenzen anerkennt, die zwischen Israelis und Palästinensern bestehen, dann kann man sich über die Differenzen vielleicht einigen, aber wenn man Ausschließlichkeitsansprüche ansstrebt, weil die Wahrheit eine sei und die anderen eben nicht an ihr teilhaben, dann komme ich nicht weiter. Das heißt, da ist Politik im alten Sinne gefordert – die alten politischen Maximen, elastisch zu verhandeln und elastische Druckzonen herzustellen. Fischer hat offenbar einige Fähigkeiten in dieser Richtung entwickelt, jedenfalls scheint es mir so zu sein, ich kann das schwer beurteilen.

Solbach: Kulturwissenschaftler wie Clifford Geertz haben eindringlich den Unterschied zwischen dem kolonialistischen und quasi-naturwissenschaftlichen Impetus der europäischen Vorkriegs-Anthropologie und der seinerzeit, in der Endphase der europäischen Kolonialreiche, neuen, von Amerika ausgehenden Ethnologie beschrieben, die anders als ihre Vorgängerin die Vertreter der beschriebenen Kulturen selbst zu Wort kommen lassen wollte. Heute gibt es an solchen Selbstbeschreibungen keinen Mangel. Das Ergebnis scheint nicht der ›Dialog der Kulturen‹, sondern die Beweihräucherung des Andersseins zu sein. Hilft der ethnologische Ansatz dem Terror? Oder, noch einmal anders gefragt, hilft der Historiker, die Dinge anders zu sehen und kann die Geschichte das zurechtrücken?

Koselleck: In diese Frage sind viele Prämissen eingegangen, das ist nicht ganz leicht zu beantworten. Zunächst ist die Feststellung von Clifford Geertz natürlich zum Teil eine optische Täuschung. Denn zu behaupten, dass die von sich aus reden, die unter der Suggestion der Freigabe der Selbstäußerung stehen, ist natürlich ein Irrtum. Die reden nicht von sich aus, die stehen unter der Suggestion des Fragenden, der die Auslauffragen freigibt, und damit sind sie bereits im Mentalitätsumkreis ihres Fragers angekommen. Diese Selbstbeschreibungen, gut, die sind heute häufig und werden gezüchtet, werden sozusagen scheinbare Primärquellen, sie sind aber vielleicht eher die Ergebnisse besserer Befragungstechniken, die den Befragenden nicht so stören oder ihm obendrein noch ein moralisches Recht geben; grundsätzlich ist da, glaube ich, kein Unterschied, in der Ethnologie kommt da nichts wirklich Neues heraus. Ob das nun den Terror durch die Beweihräucherung des Andersartigen noch mit stimulieren hilft, dessen bin ich mir nicht sicher. Es könnte sein, dass die Anerkennung des Andersartigen als Zeremoniell, als Ritus im Bereich der Umgangsformen zu dem Zweck, sich von der ehemaligen kolonialen Vergangenheit zu entlasten, der anderen Seite Munition liefert, sich nun selbst als Agressor zu benehmen. Denkbar wäre es, dass diese psychologische Transformation stattfindet, aber ich bin im Zweifel, ob man das den Aufklärern als Schuld oder als Verantwortung anrechnen muss und kann. Die Beweihräucherung des Andersseins ist eine Mode, das ist klar. Sie ist wahrscheinlich im Ganzen in England, in Frankreich geringer als bei uns. Soweit ich es überschaue, ist das eine spezifisch deutsche Krankheit, die mangelndes Selbstbewusstsein zu erkennen gibt. Ich glaube nicht, dass es mehr ist.

Solbach: Wissenschaftliche Disziplinen leben von gekonnten Inszenierungen. Die deutsche Nachkriegsgeschichtsschreibung hat davon oft profitiert, am entschiedensten vielleicht im sogenannten Historikerstreit der 80er Jahre. Was bleibt davon, wenn der Abstand ›gebührend‹ geworden ist: Ein schaler Geschmack? Das Bewusstsein eines kollektiven Lernerfolges? Ein toter Sündenbock? Anders gefragt, gibt es Leichen im Keller der Historiker? War der Historikerstreit nur die Argumente, die er hervorgebracht hat, nur die Argumentationsstrategie oder steckt auch anderes dahinter?

Koselleck: Also ich habe nur einen schalen Geschmack. Ich habe mich an dem Streit nie beteiligt. Ich hatte einmal vor, über die Transformation der historischen Kategorien in moralische und rechtliche Kategorien zu schreiben. Aber das ist mir dann für einen spontanen Aufsatz zu schwierig geworden. Ich habe mich, wie gesagt, nicht beteiligt und halte den ganzen Historikerstreit für so inszeniert, dass es nur peinlich ist. Wenn ich daran denke, dass Hillgruber so viel geleistet hatte in der Erforschung des Zweiten Welkrieges inklusive der Judenvernichtung, dass ihm das passiert ist, zwei längst veröffentlichte Aufsätze unter dem Titel ›Zweierlei Untergang‹ zusammenzuführen und damit die Ostpreußen und die Juden zu vergleichen, ohne sie zu vergleichen – diese Aufsätze waren unabhängig entstanden und in sich stimmig, und den Vergleich hat er, wie gesagt, nicht durchgeführt. Darüber kann man sich natürlich ärgern, aber der Titel stammt von Siedler. Gegen Siedler, der im Kriege als Jugendlicher im Gefängnis saß, weil er Juden geholfen hatte, hat man kein Wort erhoben. Aber gegen Hillgruber, der der Suggestion dieses verlegerisch guten Titels erlegen ist und nicht etwa über einerlei Untergang, sondern über zweierlei Untergang geschrieben hat, ein Welttheater zu inszenieren, das hat mich wirklich angewidert. Hillgruber ist an Krebs eingegangen wie eine Primel. Und bei Nolte sieht es ähnlich aus. Die Fragen, die Nolte gestellt hat, sind ja bis heute noch nicht beantwortet. Dass Nolte eine Antwort versuchte, die manieriert ist, und eine metaphysische Diktion hat, gut, das sind alles Sachen, die diesem an sich ja hoch verdienstvollen Forscher über den Faschismus nachgesehen werden können. Man muss ja nicht die Leute gleich diffamieren, wie es dann passiert ist, ohne dass bisher ein Buch erschienen ist, das die Fragen von Nolte beantwortet, nämlich: Wie stark ist der Einfluss der bolschewistischen Revolution auf die Mentalität der Deutschen gewesen, speziell auf die der deutschen Freikorps, auf die deutschen Parteigründungen im rechten Spektrum, die zum Teil aus den Freikorps hervorgegangen sind? Die Russen sind damals von den Engländern, den Amerikanern und den Japanern mit einer Intervention überzogen worden. Die bolschewistische Revolution hat also zur Intervention dieser Weltmächte geführt und auch die Deutschen haben reagiert, Mussolini auf seine Weise, durch Integration sozialistischer Argumente, ähnlich die Nationalsozialisten, die sich streckenweise ja auch als Sozialisten definiert haben. Das heißt, der Einfluss von 1917-1923 auf die deutsche Rechte muss empirisch nachgewiesen und untersucht werden – Schritt für Schritt, Zeitung für Zeitung, Rede für Rede, Versammlung für Versammlung. Das lässt sich machen, und dann kann man weiter reden, anstatt den Stab zu brechen. Dass diese Hypothese, die dann unglücklich formuliert worden ist, welterschütternde Moralstürme auslösen hätte müssen, ich muss schon sagen... Es war eine selbstgezüchtete Überheblichkeit, die in Anbetracht der Fragen, die zur Debatte stehen, fast geschmacklos war, taktlos und geschmacklos. ›Schaler Geschmack‹ ist die richtige Formulierung.

Solbach: Was empfinden Sie, wenn Sie ein Buch wie Der Brand von Jörg Friedrich lesen, in dem der alliierte Bombenkrieg gegen Nazi-Deutschland in den Bereich des Nachempfindens gerückt wird: Verdruss? Bewunderung?

Koselleck: Ich habe Der Brand nicht gelesen und kenne nur Friedrichs Buch über den Krieg, das ich für sehr gut halte. Dazu kann ich nur sagen, er hat die Nürnberger Akten noch einmal gelesen und sehr viel mehr herausbekommen, als dem normalen juristisch trainierten Zuhörer bzw. Leser der Prozessakten gewärtig war. Er hat jetzt offenbar diesen Bombenkrieg so geschildert, dass man nachvollziehbar hineingerät, wenn ich das recht weiß. Da ich selbst ... also wir sind zuhause völlig ausgebombt worden, wir haben alles verloren, ich habe einen kleinen Bruder im Keller verloren, das gehört für mich zur Erfahrung des Krieges und deswegen habe ich auch nie darüber geschwiegen. Ich habe nie Schwierigkeiten gehabt, das zu erzählen, obwohl ich einräumen muss, dass es im Ausland nicht ganz leicht war, weil die nicht glauben wollten, was sie angerichtet hatten. Die Engländer haben ja, ihrer Selbstdarstellung entsprechend, nach dem Kriege geglaubt, sie hätten nur Industrie bombardiert. Dass das Terrorangriffe waren, gewollte, gezielte und gekonnte Terrorangriffe, eine solche Äußerung war damals in der öffentlichen Meinung der Engländer nicht statthaft. Daher muss ich sagen, ich habe mich zurückgehalten, weil ich die Leute, wenn es Freunde waren, nicht verletzen wollte. Man musste abwarten, ob man mit ihnen darüber frei reden konnte. Das ist so ähnlich wie mit dem Thema der Judenvernichtung im Ausland: die Juden, die Sie im Ausland trafen, konnten Sie ja nicht darauf ansprechen, wie heute naiverweise gefordert wird, mit »mea culpa, mea culpa, können wir mal über die Judenvernichtung reden?« Man musste warten, bis die etwas fragten oder sagten. Weshalb Schweigen keineswegs Verdrängung der Schuld bedeutete.

Solbach: Es gibt unterschiedliche Arten von Schweigen.

Koselleck: Natürlich. Es war ein Schweigen als Minimum von Anstand, hinter dem man seine Reflexionen verbergen musste, um sie in freundschaftlichen Situationen zu kommunizieren. Solche Delikatessen sind in der heutigen Besserwisserei völlig untergegangen. Um auf das Buch von Friedrich zurückzukommen, ich lese es sicher noch, ich schätze Friedrich sehr, weil er auch das Kriegsbuch sehr zupackend geschrieben hat, warum nicht? Die Deutschen haben ein Recht auf ihre eigene Erinnerung. Ich gehe davon aus, dass eigene Erinnerung zu haben fast ein Menschenrecht ist. Ich lasse mir meine Erinnerungen nicht kollektivieren und nicht vereindeutigen durch Moralapostel, die ihre Wahrheit als die gültige deklarieren. Ich bleibe bei derjenigen, die ich habe, und die beruht auf Erfahrung und lässt sich nicht kollektivieren.

Solbach: An prominenten Historikern besteht in Deutschland kein Mangel. An fleißigen auch nicht. Nur die Impulse scheinen von außen zu kommen: Geschichte des alltäglichen Lebens, Geschichte der Frauen, Neokolonialismus, politischer Fundamentalismus – selbst die aktuellen Beiträge zur Hitler-Biographie und zur Helfer-Diskussion stammen aus dem, was eine liberale deutsche Zeitung wie eh und je ›fremde Federn‹ nennt. Entgleitet deutschen Historikern ihr Publikum? Oder stehen sich Prominenz und wissenschaftliche Neugier wechselseitig im Wege? Was würden sie als die Leistung der deutschen Historiker ansehen?

Koselleck: Eine dieser Wellen, die erfunden worden sind, der ›Linguistic Turn‹, hat mich persönlich betroffen. Er kam bei mir an, nachdem ich zwanzig Jahre lang Sprachgeschichte als essentiellen Teil der Geschichtswissenschaft betrieben hatte – unter viel Kritik meiner sozialhistorischen Kollegen, die das ja für Ideologie hielten. Aber der ›Linguistic Turn‹ hat Sprachanalysen plötzlich bei den Sozialhistorikern anerkennenswert gemacht, das ist für mich eine ironische Geschichte. Der ›Linguistic Turn‹ hat also in meinem Fall nur offene Türen eingerannt oder Dämme überspült, die es gar nicht gab. Das ist ein Fall, ich muss gestehen, dass ich die anderen Modewellen, die sie da nennen, nicht selber betrieben habe – Alltagsleben etwas und Frauengeschichte auch etwas, aber ich muss einräumen, dass ich persönlich nicht stimulierend diese modischen Fragestellungen vorangetrieben habe. Aber ich hatte nie etwas dagegen, dass sie betrieben werden, und Alltagsleben ist auch, zum Ärger der makrosoziologisch und -historisch arbeitenden Kollegen, von einer Gruppe der Göttinger mit betrieben worden, und ich muss sagen, die haben sich durchgesetzt. Das war dann auch Teil eines Programms, das außerhalb professioneller Schulbildung lief, von der Hamburger Körber-Stiftung mit durchgesetzt und gefördert, mit dem man sehr gute Erfolge hatte; hervorragend, was die Jugendlichen da leisten. Das ist echtes historisches Engagement, das, durch die Schullehrer vermittelt, Alltagsgeschichte rekonstruiert oder wieder aufleben lässt, wo die Erinnerung wirklich eine spontan erforschte Landschaft wird. Das ist höchst erfreulich. Aber das ist von den offiziellen Professoren der historischen Zunft mitgetragen worden. Das ist eine erfreuliche Erfahrung, die den Verdacht, den Sie formulieren, eigentlich nicht schürt. Ferner muss man sagen, dass die Erforschung des Zweiten Weltkrieges und Hitlers natürlich auch von deutschen Autoren betrieben worden ist. Ich muss einräumen, wenn man Fest nicht als Historiker, sondern als Journalist definiert, dann ist die Zahl derer, die Biographien über Hitler verfasst haben, doch mehrheitlich im Ausland anzusiedeln. Es gibt Jäckel, dem dann die Panne unterlief, dass er die »Autographen« nicht als Fälschung erkannte. Das kann passieren. Aber Fremdwahrnehmung ist ja vielleicht ganz nützlich. Die großen Biographien von Bullock und – wie heißt der jüngste Hitlerbiograph? - Kershaw lesen sich sehr gut, aber Fest eben auch. Man kann darüber streiten, aber ich finde es erfreulich, dass wir uns solche konkurrierenden Monographien auf dem Markt leisten können. Das Publikum, darüber haben wir schon gesprochen, ist natürlich durch sozialhistorische Forschungsstrategien in gewisser Weise gelangweilt. Ich weiss nicht, wie sich Wehlers Gesellschaftsgeschichte neben Nipperdey verkauft. Nipperdey ist natürlich viel erzählender als Wehler und die Historiker können beides mit Spannung vergleichen, ob es der Normalleser mit Spannung vergleicht, weiß ich nicht. Das entzieht sich einfach meiner Kenntnis. Und dass wissenschaftliche Neugierde alles erschließen können soll, ist klar, ob die Prominenz das verhindert, das ist... eine Suggestivfrage.

Solbach: Es ist ja auch ein bisschen provokativ gemeint.

Koselleck: Ich gehe davon aus, ein Historiker kann nur ein Frageraster entwickeln, das ihn interessiert. Alles, was ich geschrieben habe, ist nur durch meine Fragestellung entstanden, und die steht natürlich im Kontext von Unterhaltungen, von Dialog und Plurilog mit anderen Kollegen. Die Fragestellung muss man so formulieren, dass die Texte, die man produziert, Antworten auf sie enthalten. Das habe ich bei meiner Dissertation getan, ich habe es in meinem Preußenbuch so gemacht, und danach habe ich eigentlich nur noch Aufsätze geschrieben, bzw. diese großen begriffsgeschichtlichen Analysen vorgelegt. Die begriffsgeschichtlichen Analysen stehen unter vier Hypothesen, die beantwortet werden müssen. Das heißt, ich habe eine Forschungsstrategie, die durch Fragen in der Sprachgeschichte, in der Rechts- und Sozialgeschichte definiert ist. Man kann über die Fragen streiten, ich habe überhaupt keine Schwierigkeiten, mich zu ihnen in der Öffentlichkeit zu äußern. Aber dass das eine Schule sein soll, interessiert mich überhaupt nicht. Der beste Schüler ist der, der keiner ist. Das ist meine Regel. Insofern kann ich nur froh sein, wenn man keine Schüler hat, weil die dann besser sind als die sogenannten Schüler, und deswegen gibt es ja auch Fortschritt im Sinne der Methoden. Die bei mir etwas gelernt haben, haben gerade in der Begriffsgeschichte ganz eigene Methoden entwickelt, die über die begriffsgeschichtlichen Fragestellungen hinausführen. Das wird dann mit dem Wort ›Diskursanalyse‹ umschrieben, da gibt’s dann so Fremdworte, die gerne aus Paris importiert werden, um modischer zu klingen, aber es ist natürlich Kontextanalyse oder einfach Textanalyse, die auf verschiedenen Ebenen verschiedene Fragen herauszünden lässt. Die Begriffe sind eben relativ eng in ihrem Umfeld angesiedelt, sie setzen Texteinheiten, Corpora, ganze Romane oder ganze Gattungen voraus, die einen unendlichen Wust von Kontextanalysen mit implizieren, die man mit begriffsgeschichtlicher Akuratesse gar nicht betreiben kann. Begriffsgeschichtliche Akuratesse hat den Vorteil, dass man exakt und mit konkreten Begriffen das Umfeld ausmessen kann, während man in dem Maß begrifflich unscharf wird, in dem die Einheiten der Analyse größer werden. Das sind sozusagen kompensatorische Plus- Minusleistungen, die sich aus der Methode ergeben, die nicht etwa den Personen zuzurechnen sind, was dann gerne so eine kurzatmige Form der Kritik behauptet...

Solbach: Das finde ich eine sehr sympathische Sichtweise.

Koselleck: Ja, ja?

Solbach: Sie selbst stehen seit Jahrzehnten ›im Licht der Öffentlichkeit‹. Wie konnte das passieren - oder: Wie ist das passiert?

Koselleck: Da müssen sie eigentlich andere fragen. Ich muss gestehen, ich habe mir selbst diese Frage nicht gestellt und ich kann nur sagen, zum Teil ist es überraschend für mich, dass sich das so ergeben hat. Ohne die Preise und die Einladungen, die man bekommen hat, würde man es ja gar nicht wahrnehmen. Im Historikerverband bin ich lange nicht Mitglied gewesen, bis ich mit Christian Meier eintrat, um ihm meine Stimme geben zu können. Zweimal habe ich auf dem Historikertag einen Vortrag gehalten, das waren die einzigen Male, an denen ich da war. Ich habe mich immer aus den Organisationsfragen herausgehalten. Man kann mir vorwerfen, dass ich mich sozusagen den Öffentlichkeitsverpflichtungen entzogen habe. Was sicher der Fall ist, ich hab’s mir nicht zugetraut, im Historikerverband in Ämter einzusteigen, obwohl ich früher einmal dazu aufgefordert worden war. Vor allem habe ich gegen Massenveranstaltungen eine große Abneigung, wenn deren Ergebnisse besser in Ruhe zu lesen sind. Ich habe auch viel zu abseitige andere Interessen, die sich nicht auf die Zunft richten, meine philosophischen und soziologischen und juristischen und kunsthistorischen Interessen vor allem führen mich doch immer weiter weg von der üblichen Streitkultur im Binnenkampf der Zunftgenossen. Schon insofern ist meine Bekanntheit eigentlich eher extrahistorisch zu erklären – möchte ich mal vermuten.

Solbach: Dieses Jahr ist für Sie ein Jubeljahr. Glauben Sie, dass Öffentlichkeit irgendjemandem Dank schuldet?

Koselleck: Nein. Ich habe schon immer gesagt, Öffentlichkeit ist kein Handlungssubjekt, kann also keinen Dank schulden. Öffentlichkeit ist ein reiner Resonanzboden, wo sich die Stimmen kreuzen, und die Stimmen, die Dank aussprechen mögen, sind privat oder persönlich, nicht aber eine Institution. Die Öffentlichkeit ist, wie gesagt, keine Institution, die handelt. Deshalb finde ich ... die Frage ist nicht beantwortbar.

Solbach: Ich danke Ihnen.